Die schönste Zeit des Lebens
ihr Bett hängen?
Die Schwester nimmt es, betrachtet es interessiert.
Sie sind ihr Enkel?
Nein, ich bin von der Altenhilfe. Zivi. Ich habe sie heute Morgen in ihrer Wohnung gefunden.
Die Schwester hält immer noch das Bild in der Hand und betrachtet es.
Das ist sie, nicht wahr, sagt sie und zeigt auf das Mädchen zwischen den beiden Schnurrbärtigen.
Ja, sagt Robert, ja, das ist sie. Und dann fügt er, obwohl er das eigentlich gar nicht so genau wissen kann, hinzu: Sie war einmal eine berühmte Trapezkünstlerin.
9
ICH HABE TEE GEMACHT . Sie trinken doch Tee?
Frau Sternheim geht mit ihren kleinen, tastenden Schritten in die Küche, erscheint gleich darauf mit einem Tablett wieder in der Tür. Robert springt hinzu, nimmt es ihr ab, stellt es auf das zierliche Tischchen.
Was haben Sie sich heute für mich ausgedacht, fragt sie, als sie sich gegenübersitzen. Sie beugt sich vor, tastet nach seiner Tasse, schenkt ihm Tee ein.
Nehmen Sie Zucker? Mir hat der Arzt Zucker verboten, und Sacharin mag ich nicht.
Ihre Hand zittert ein wenig, als sie erst ihm, dann sich selbst Tee eingießt. Nun, sagt sie dann. Was bieten Sie mir heute?
Wenn Sie wollen, lese ich da weiter, wo wir das letzte Mal aufgehört haben.
Gut, sagt sie. Dazu setze ich mich dann nachher in meinen Lesesessel. Aber zuerst trinken wir unseren Tee.
Sie nimmt einen kleinen Schluck aus ihrer Tasse, nickt, als müsse sie bestätigen, dass es sich tatsächlich um Tee handelt, und sagt dann abrupt: Was ist Ihr Lebensplan, junger Mann?
Robert erschrickt, fühlt sich überrumpelt, hat er richtig gehört: mein Lebensplan?
Ja, sagt sie. Sie werden doch eine Vorstellung davon haben, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollen.
Er sei noch unschlüssig, antwortet Robert, habe noch gar nicht richtig darüber nachgedacht. Jetzt leiste er zunächst einmal seinen Zivildienst ab, das dauere ja fast noch ein Dreivierteljahr, und dann …
Was möchten Sie denn gern machen?
Was ich möchte? … Mein Vater und meine Mutter …
Sie unterbricht ihn, lässt ihn nicht aus: Was Sie möchten.
Robert nimmt einen Schluck Tee, holt Luft, nimmt noch einen Schluck.
Ich?
Er wirft einen Blick zu ihr hinüber, sieht, dass sie mit gespannter Aufmerksamkeit auf seine Antwort wartet. Was soll er auf ihre Frage antworten, er weiß es ja selbst nicht. Bei der Berufsberatung kurz vor dem Abitur hat er angegeben, dass er Ingenieur werden wolle. Maschinenbau. Er weiß nicht, wie dieser Berufswunsch in seinen Kopf geraten ist. Er weiß nicht einmal, ob es überhaupt sein Wunsch ist.
Ich möchte Maschinenbau studieren, sagt er.
Maschinenbau.
Sie spricht das Wort aus, als wäre es ein Schlusswort, ein Wort, das alle weiteren Fragen überflüssig macht. Aber dann fragt sie doch noch: Das ist Ihr Herzenswunsch?
Ja, sagt Robert.
Sehr überzeugend klingt das nicht, aber sie scheint es zu akzeptieren. Sie sitzen sich eine Weile schweigend gegenüber und trinken ihren Tee. Maschinenbau. Das Wort kreist in Roberts Kopf. Auf einmal hat es einen merkwürdigen Klang, fremd klingt es, exotisch: Maschinenbau. Bisher war es ein ganz normales Wort, klar, eindeutig, aber jetzt kommt es ihm vor, als habe es eine von ihm übersehene Nebenbedeutung, als klinge darin etwas an, was ihn irritiert, etwas Fremdes, ein falscher Ton. Nach einer Weile steht Frau Sternheim auf, geht hinüber zu dem großen Ohrensessel, setzt sich, schlägt die Beine übereinander, lehnt den Kopf erwartungsvoll zurück.
Nun, junger Mann?
Robert stellt die Teetasse ab, geht zum Regal, zieht nach kurzem Suchen das Buch heraus, aus dem er das letzte Mal vorgelesen hat. Er setzt sich ihr gegenüber mit dem Rücken zu den Fenstern, schlägt das Buch an der Stelle auf, wo er das Lesezeichen eingelegt hat, und beginnt.
In alten Zeiten und in längst entschwundenen Vergangenheiten lebte einmal ein Sultan von Indien. Der hatte drei Söhne; der älteste hieß Prinz Husain, der zweite Prinz Ali, der dritte Prinz Ahmed. Robert tastet sich mit den Augen die Zeilen entlang wie ein Fährtenleser. Die fremden Namen, die blumige Sprache, all das ist ihm ein wenig unheimlich, zögernd nur nimmt er die Wörter in den Mund, schmeckt sie, prüft ihre Konsistenz, formt, modelliert sie, der Klang seiner eigenen Stimme ist ihm zugleich vertraut und fremd. Wie eine Wolke schwebt er über ihm.
Aber sobald er die Wörter ausgesprochen und zu Sätzen gereiht hat, leuchten in Roberts Kopf die Bilder auf, er ist es, der diese phantastische Reise
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