Die schönste Zeit des Lebens
unternimmt, zu Wasser und zu Lande, durch wüste Wildnisse und steinige Steppen, dichte Dschungel und fruchtbare Landstriche, mit Feldern und Weilern, mit Gärten und Städten ins Land Bischangarh. Er ist es, der über die Basare streift, seine Hände über Seidenstoffe, Brokate, Satins, über goldene und silberne Gefäße, geschmückt mit Diamanten, Rubinen und Smaragden, gleiten lässt. Und als er schließlich den fliegenden Teppich erworben und sich mitsamt seinem Gefolge in die Luft erhoben hat, um zu dem vereinbarten Treffpunkt zu fliegen, wo er sich mit seinen Brüdern vereinigen wird, da macht Robert eine kurze Pause, weil er das Gefühl hat, dass ihm schwindelig wird von der sausenden Fahrt.
Er will gerade weiterlesen: Vernimm nun, o glücklicher König, was Prinz Ali, der ältere von den beiden Brüdern des Prinzen Husain, erlebte, da spürt er ihren forschenden Blick auf sich ruhen. Er schaut auf, bemerkt, dass das feine Lächeln auf ihrem Gesicht verschwunden ist.
Robert? Sie heißen doch Robert?
Ja, sagt er.
Sind Sie glücklich, Robert?
Was für eine Frage? Soll er sie einfach überhören? Solch eine Frage darf man ihm nicht stellen, niemand hat das Recht, eine solche Frage an ihn zu richten. Robert spürt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Er ist wütend auf die alte Frau, auf sich selbst. Was will sie mit diesen Fragen? Warum müssen ihn immer alle mit ihren Fragen bedrängen? Er hat auch so schon genug damit zu tun, sich im Leben zurechtzufinden. Es geht sie nichts an, ob er glücklich ist oder nicht. Was soll das überhaupt heißen: Sind Sie glücklich, Robert? Glück. Sie soll ihn in Ruhe lassen. Er ist hier, um ihr vorzulesen, nicht um sich ausfragen zu lassen.
Ich lese gern vor, sagt er. Und als sie daraufhin nichts erwidert, da liest er den Satz, den er zu lesen ansetzte, als sie ihn unterbrach, liest ihn seltsam gepresst, wie mit unterdrückter Wut: Vernimm nun, o glücklicher König …, und fährt gleich fort, hastig, die Wörter hervorstoßend, mit der Geschichte vom Prinzen Ali, den es nach der Stadt Schiras in Persien verschlägt, wo er auf dem Basar ein wundersames Fernrohr aus Elfenbein ersteht, mit dem man alles sehen kann, was man zu sehen wünscht, und sei es noch so weit entfernt und hinter noch so dicken Mauern verborgen.
Punkt fünf klappt er das Buch zu, legt das Lesezeichen hinein, stellt es zurück ins Regal.
Heute muss ich wirklich pünktlich sein, sagt er zu der alten Frau, die im Sessel sitzt, als schlafe sie mit offenen Augen. Sonst kriege ich zu Hause wieder Ärger.
Er ist an der Tür, bevor sie etwas antworten kann. Als die Wohnungstür zuschlägt, seufzt sie, erhebt sich, tritt ans Fenster. Sie schaut ihm nach, sieht aus der Entfernung schemenhaft, wie er mit dem Fahrrad die Straße entlang davonfährt. Eine Flucht, denkt sie. Es ist eine Flucht.
10
ALS DAS LICHT AUFFLAMMT , liegt der Flur wie ein enger Trichter vor ihr. Links die Glasfront, rechts die lange Reihe der Türen. Wieder spürt sie für einen kurzen Moment den Sog, der sie in den Trichter hineinzieht bis zu jenem fernen Punkt, wo der Raum sich auflöst und sie sich mit ihm, wo alles nur noch schwebende, kalte Stille ist. Das gleißende Licht der Neonröhren, die glänzende Schwärze der Glasfront. Immer kostet es sie Überwindung, den ersten Schritt zu tun, aber dann, wenn er getan ist, geht sie tapfer wie Alice im Wunderland den ganzen langen Flur entlang bis zur allerletzten Tür. Sie nimmt den Schlüssel mit der gelben Kappe, schließt auf, macht Licht: die Gerätekammer. Staubsauger, Bohnermaschine, Scheuersauger nebeneinander auf dem Boden, Putzmittel, Staublappen und Schwammtücher im Regal.
Der Pförtner unten kann auf seinen Bildschirmen nicht nur den Eingangsbereich, sondern auch das Treppenhaus und alle Flure einsehen. Seit Edith das weiß, trägt sie unter dem kurzen Arbeitskittel, den die Firma zur Verfügung stellt, immer eine Jeans. Trotzdem ist ihr nicht wohl, weil sie sich beobachtet fühlt. Sie füllt das Reinigungsmittel ein, gießt mit der Gießkanne Wasser nach, schiebt den Scheuersauger auf den Flur hinaus, steckt den Stecker in die Steckdose unten neben der Tür. Der leise heulende Ton, das sanfte Vibrieren. Sie zieht eine glänzende Spur über den Kunststoffbelag des Flurs. Hier und da schwarze Streifen, die die Maschine nicht schafft. Dann greift Edith zu einer der Plastikflaschen, die in Halterungen vorn an der Maschine festgeklemmt sind, geht auf die Knie und reibt
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