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Die schönste Zeit des Lebens

Die schönste Zeit des Lebens

Titel: Die schönste Zeit des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Langen Müller
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Rucksack, grinst verlegen, murmelt etwas Unverständliches und geht, ohne sich zu verabschieden, zu seinem Fahrrad und fährt davon.

22
    ALS ROBERT AM FREITAGNACHMITTAG zum Vorlesen bei Frau Sternheim eintraf, stand ihre Wohnungstür offen. Er trat ein, ging durch die offene Tür ins Wohnzimmer: Frau Sternheim? Unschlüssig sah er sich um, ging dann, als er keine Antwort erhielt, zum Kamin hinüber und betrachtete die beiden gerahmten Fotos, die auf dem Sims standen. Ein junges Paar, er im Zweireiher und mit randloser Brille, sie in einem hochgeschlossenen Kleid, die Haare streng nach hinten gekämmt. Berlin 1926 stand in Handschrift darunter. Daneben ein zweites Foto: fünf Kinder, der Größe nach aufgereiht auf der untersten Stufe einer Freitreppe vor einem düsteren, wilhelminischen Backsteinbau, zwei Jungen, drei Mädchen, die beiden ältesten vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt.
    Die Zweite von links, das bin ich.
    Frau Sternheims Stimme. Sie stand plötzlich in der offenen Wohnzimmertür, Robert hatte sie nicht kommen hören. Mit ihren kleinen, tastenden Schritten kam sie näher, und als sie hinter ihm stand, sagte sie: Ich war in der Familie das schwarze Schaf, deswegen wurde ich mit vierzehn auf ein Mädchenpensionat in die Schweiz geschickt. Das hat mir das Leben gerettet.
    Robert drehte sich um, sah sie fragend an.
    Meine Eltern und meine Geschwister haben die Nazis umgebracht, sagte sie. Ich habe überlebt, weil ich in der Schweiz war, als man sie abholte.
    Sind Sie …
    Robert stockte, eine einfache Frage, und doch hatte er auf einmal das Gefühl, dass man sie nicht stellen durfte, dass er sie nicht stellen durfte.
    … Jüdin?, sagte Frau Sternheim. Das war es doch, was Sie fragen wollten. Wir waren Deutsche, eine ganz normale deutsche Familie. Die Nazis haben uns zu Juden gemacht.
    Robert liegt auf seinem Bett, starrt an die Decke, und immer geht ihm dieser Satz durch den Kopf: Die Nazis haben uns zu Juden gemacht .
    Die Fotos auf Frau Sternheims Kaminsims: der Vater, die Mutter, die fünf Kinder, so sah damals eine normale deutsche Familie aus. So sahen vielleicht auch einmal jene anderen Menschen aus, die Robert auf Fotos in einer Ausstellung gesehen hat, die sie im letzten Schuljahr mit ihrem Geschichtslehrer besuchten: halb verhungerte, verängstigte Menschen, Frauen, Kinder, alte Männer, bewacht von SS-Männern mit Karabinern und Schäferhunden.
    Im Ersten Weltkrieg, erzählte Frau Sternheim, habe ihr Vater sich als Freiwilliger an die Front gemeldet, um Deutschland gegen den Erbfeind Frankreich zu verteidigen. Später sei er Journalist geworden, sei bis 1933 Feuilletonchef bei einer großen Berliner Zeitung gewesen. Manche der Schriftsteller, deren Bücher dort drüben stünden, seien in ihrem Elternhaus ein- und ausgegangen.
    Vor der Machtergreifung Hitlers natürlich, sagte sie und lachte auf, als sei das ein besonders spaßiges Detail. Hinterher hat sich keiner mehr blicken lassen.
    Vor lauter Erzählen hatte Frau Sternheim den Tee in der Küche vergessen.
    Jetzt ist er bestimmt bitter, sagte sie. Wollen Sie ihn trotzdem trinken? Mit Milch vielleicht?
    Sie tranken den lauwarmen Tee, der, wie Robert feststellte, gar nicht bitter schmeckte, wenn man Milch und Zucker hineintat, und Frau Sternheim fuhr fort zu erzählen. Ihre Mutter habe vor ihrer Ehe Philosophie studiert, in Marburg, zunächst bei Paul Natorp, später noch einige Semester bei dessen Nachfolger Nicolai Hartmann. Als sie ihren Mann kennenlernte, habe sie kurz vor der Promotion gestanden. Aber dann habe sie geheiratet und das Studium an den Nagel gehängt. So sei das damals in Deutschland gewesen: Frauen, die heirateten, brauchten keinen Beruf. Vielleicht habe sie selbst es deshalb später umgekehrt gemacht: Sie habe einen Beruf ergriffen, aber geheiratet habe sie nicht.
    Von der Schweiz aus, erzählte Frau Sternheim, sei sie nach dem Ende des Krieges zu einer Großtante nach Birmingham gekommen. Dort habe sie vier Jahre lang in einer Privatschule als Deutschlehrerin gearbeitet. Ja, es habe damals in Großbritannien tatsächlich Menschen gegeben, die ihre Kinder Deutsch lernen lassen wollten. Sie selbst habe damals geschworen, Deutschland nie mehr zu betreten. Anfang der Fünfzigerjahre sei sie dann mit Freunden nach Israel gegangen, habe eine Zeit lang in einem Kibbuz gearbeitet, zunächst in der Landwirtschaft, später als Lehrerin. Aber sie habe sich in Israel nie wirklich heimisch gefühlt. Mit der Zeit sei die

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