Die schönste Zeit des Lebens
Sehnsucht nach Deutschland, nach der deutschen Sprache – der Sprache der Mörder, wie manche in Israel heute immer noch sagten – immer größer geworden, und sie sei zurückgekehrt, zuerst nach Berlin, dann hierher, wo ihr eine Stelle als Bibliothekarin angeboten worden sei. Und dann sagte sie wieder einen dieser Sätze, die Robert nachher immerzu im Kopf herumgehen.
An mir, sagte sie und lachte in sich hinein, haben sich die Nazis die Zähne ausgebissen. Mich haben sie am Ende doch nicht zur Jüdin machen können.
Bibliothekarin also, zuletzt zwölf Jahre lang Leiterin der hiesigen Stadtbibliothek. Daher die vielen Bücher in ihrem Wohnzimmer. Aber die akribische Ordnung der Bibliothek hat sie in ihrer Wohnung nicht gelten lassen. Dort herrscht eine andere, nur ihr einsichtige Ordnung. Für einen Augenblick fühlte Robert sich, als werde ihm eine Augenbinde abgenommen und er sehe dieses Wohnzimmer zum ersten Mal, die fast bis zur Decke reichenden Bücherregale, den offenbar seit Langem nicht genutzten Kamin, das kleine Tischchen, die altmodische Teekanne auf dem Stövchen aus weißem Porzellan. Ob ihn das denn überhaupt interessiere, diese alten Geschichten, fragte Frau Sternheim. Robert schreckte aus seinen Gedanken auf. Doch, doch, sagte er. Das interessiere ihn sehr. Aber wenn sie lieber wolle, dass er ihr vorlese …
Es war schon nach sechs, als Robert sich schließlich verabschiedete. Er stand an der Tür und hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen müsse.
Ich …, sagte er, stockte, wusste nicht weiter, sagte schließlich: Ich danke Ihnen.
Wofür?
Dass Sie mir das alles erzählt haben.
Wissen Sie, Robert, dass Sie der erste Mensch sind, dem ich das erzählt habe?
Und warum, fragte Robert, haben Sie vorher nie jemandem davon erzählt?
Ich weiß es nicht.
Sie schwieg einen Augenblick, schien nachzudenken. Wahrscheinlich, weil ich niemand damit behelligen wollte. Es hätte nur gestört, mich und die anderen. Ich wollte ja nur eins: ein normales Leben führen.
Und jetzt? Warum haben Sie es jetzt mir erzählt?
Sie schaute ihn lange an, ihre weit geöffneten Augen tasteten sein Gesicht ab, als versuche sie die Antwort darin zu lesen.
Ja, warum? … In Israel habe ich mit einem Mann zusammengelebt. Wir hatten einen Sohn, er starb mit acht Jahren an Leukämie. Als ich Sie vorhin sah, wie Sie die Fotos betrachteten, da dachte ich für einen Augenblick, so hätte mein Sohn dort stehen können. Aber das ist natürlich Unfug. Er wäre heute über fünfzig. Alte Menschen neigen dazu, sentimental zu werden. Ich sah Sie dort stehen, und auf einmal lag mein ganzes Leben vor mir. Ich sagte mir, dass es doch immerhin eine Geschichte sei, eine Geschichte, die es vielleicht verdiente, erzählt zu werden. Und wem hätte ich sie erzählen sollen, wenn nicht Ihnen, Robert? Zugegeben, es ist keine sehr originelle Geschichte. In meiner Generation ist sie tausendfach so oder so ähnlich passiert. Aber das Leben ist nun mal nicht immer originell. In der Literatur ist das etwas anderes. Wenn Sie das nächste Mal kommen, dann lesen Sie mir wieder etwas Originelles vor.
Robert hat heute keine Lust, ins Schock zu gehen. Er hat auch keine Lust, Musik zu hören oder zu lesen. Er liegt auf seinem Bett, die Augen weit geöffnet, schaut an die Decke oder durch sie hindurch auf eine Welt, die ihm bisher verborgen war. Eine Geschichte, hat sie gesagt, eine Geschichte, die irgendwann erzählt werden muss. Eine merkwürdige Art, das eigene Leben zu betrachten. Muss man aus seinem Leben eine Geschichte machen, eine Geschichte, die erzählt werden kann? Ist es das, worauf es im Leben ankommt? Und wann fängt diese Geschichte an? Hat sie überhaupt einen Anfang und ein Ende?
Das Handy klingelt. Es ist Marita. Ob er wisse, wo Andy stecke? Ihre Stimme klingt seltsam rau.
Keine Ahnung, sagt Robert. Habt ihr Zoff?
Zoff …
Marita weiß nicht, ob Zoff das richtige Wort ist.
Er ist manchmal so komisch.
Wie komisch?
Na, so unberechenbar eben. Er weiß nicht, was er will … und ich weiß es bald auch nicht mehr … Pause. Und du? Warum bist du nicht im Schock ?
Hab keine Lust, sagt Robert. Ich muss über was nachdenken.
Worüber?
Über mein Leben.
Siehst du, sagt Marita. Das unterscheidet Andy und dich: Du denkst wenigstens manchmal über dein Leben nach.
23
NUN KOMMT DER VATER schon zum dritten Mal polternd und schnaufend die Kellertreppe herauf, geht mit schwerem Tritt den Flur entlang, durchs Wohnzimmer, über die
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