Die schönste Zeit des Lebens
gestritten haben wir uns gar nicht, sagt Marita, ich hab ihm nur mal gesagt, was mir nicht passt …
Also doch, denkt Robert. Ihr Anruf am Freitagabend: Er weiß nicht , was er will, und ich weiß es bald auch nicht mehr … Er hätte merken müssen, dass es ihr nicht gut ging. Aber er hatte andere Dinge im Kopf. Diese Geschichte, die Frau Sternheim ihm erzählt hatte. Er hatte einfach keine Lust zu reden, jedenfalls nicht über Maritas Probleme. Manchmal hilft es, wenn man mit Freunden spricht. Manchmal auch nicht.
Tom sagt: Deswegen brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen. Der Andy dreht manchmal ohne Grund durch. Aber das dauert nicht lange. Und dann ist er wieder okay.
Ja, aber heute ist schon Sonntag, sagt Marita. Und seine Eltern wissen auch nicht, wo er steckt.
Maritas Hand auf dem Tisch neben ihrer Tasse. Liegt da, als hätte sie sie dort vergessen. Robert ist einen Augenblick lang ganz versunken in den Anblick der Hand: Weiß ist sie, wie aus Porzellan, auf dem Rücken zeichnet sich unter der Glasur blassblau eine Ader ab. Auf einmal – warum tut er das? – berührt er sie mit den Fingerspitzen. Wie ein Blinder, der sich vergewissern will, was zu welcher Stimme gehört.
Scheiße, sagt Marita. Scheiße, Scheiße!
Ihre Stimme ist nicht mehr ganz so traurig, fast so, als wollte sie sich selbst Mut machen: Das wird schon wieder. Wenn man darüber redet, ist alles nur noch halb so schlimm.
Ich reg mich viel zu leicht auf, sagt sie.
Aber gleich darauf dann doch wieder: Normalerweise hätte er sich doch längst gemeldet, bei mir oder bei seinen Eltern …
Sich Sorgen machen. Wenn es etwas gibt, was das Erwachsensein auszeichnet, dann, dass man sich Sorgen macht. Roberts Mutter macht sich Sorgen um den Vater und um Robert. Marita macht sich Sorgen um Andy, und Tom und Robert machen sich Sorgen um Marita. Darum sitzen sie hier auf den dunkelbraunen Thonetstühlen an dem runden Tischchen mit der Platte aus künstlichem Marmor, nippen an ihren Getränken und sagen lauter Dinge, die seit eh und je gesagt werden, um Mut zu machen und Trost zu spenden.
Wenn ihm was passiert wäre, sagt Robert, wären seine Eltern doch längst benachrichtigt worden.
Und Tom sagt: Erinnert euch mal an vorletztes Jahr. Da war er auch plötzlich verschwunden, und dann, nach sechs Tagen, kam eine Postkarte aus Siena.
Seelenarbeit. Mühsam kämpfen sich Tom und Robert durch Eis und Schnee den Hang hinauf. Nackter, grauer Fels nun, steil aufragend, der Blick geht nach oben, Haken einschlagen, das Seil hindurchführen, Hände und Füße suchen Halt in Rissen und auf winzigen Vorsprüngen. Meter um Meter, sich hochziehen, Haken einschlagen, das Seil befestigen. Als sie die Wand durchklettert haben, vor ihnen auf dem Gipfel das Pozellangesicht, leuchtend in der Morgensonne: Marita. Sitzt da und kratzt mit dem Löffel die Zuckerreste aus der Kaffeetasse.
Hi!
Hi!
Hi!
Martin und Sebo kommen, schauen von draußen durchs Fenster, sehen die drei, winken, machen Anstalten, hereinzukommen.
Kein Wort über Andy, sagt Marita. Ich möchte nicht, dass die Sache überall breitgetreten wird.
Tom nickt, Robert nickt. Ehrensache. Kein Wort werden sie zu den anderen darüber verlauten lassen. Aber kaum haben Martin und Sebo sich dazugesetzt, fragt Martin: Wo ist Andy?
Ist unterwegs, sagt Marita. Vielleicht kommt er nachher noch.
Ganz beiläufig sagt sie das, ganz cool. Tom und Robert sind beeindruckt von der schauspielerischen Leistung. Aber dann, ganz plötzlich, schluchzt sie auf, Scheiße, sagt sie und noch einmal: Scheiße! Tränen spritzen ihr aus den Augen, sie schnäuzt sich, springt auf und verschwindet aufs Klo.
Martin und Sebo blicken mit offenen Mündern hinter ihr drein.
Was ist denn los?, fragt Martin.
Tom, die Lippen zusammengepresst, starrt in sein leeres Cola-Glas, sagt nichts. Von ihm, das ist klar, ist keine Auskunft zu erwarten.
Musst sie schon selbst fragen, sagt Robert.
Hm, sagt Martin.
Und Sebo sagt: Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun.
25
MONTAG UND DIENSTAG : Einweisung in die Praxis der offenen Altenhilfe. Jetzt, nachdem Robert schon fast zwei Monate Dienst tut, soll er erfahren, worauf es ankommt im Umgang mit alten, pflegebedürftigen Menschen. Das Seminar findet im Diakonissenhaus in der Borromäusstraße statt, jeweils von acht Uhr früh bis ein Uhr mittags. An beiden Tagen sind die Zivis vom Dienst befreit. Frau Stechapfel selbst wird für Robert einspringen. Außer am Dienstagnachmittag. Zu
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