Die schönste Zeit des Lebens
sagt Robert.
Haben Sie die Gardinen in die Waschmaschine getan und auf 5 gestellt? Wenn Sie vom Einkaufen wiederkommen, sind sie fertig. Sie müssen aufgehängt werden, solange sie noch feucht sind.
Ja, sagt Robert.
20
GESTERN IST FRAU STERNHEIM während des Vorlesens eingeschlafen. Robert nahm die dünne Wolldecke vom Sofa, breitete sie über die Schlafende und stellte das Buch, aus dem er gelesen hatte, ins Regal zurück. Eine Weile stand er unschlüssig vor der Regalwand, sein Blick streifte über die Buchrücken, während er überlegte, ob er einfach gehen oder die alte Dame aufwecken solle, und auf einmal blieb sein Blick an einem schmalen Bändchen hängen: Aus dem Leben eines Taugenichts. Er erinnerte sich, dass sie es im vorletzten Schuljahr im Deutschunterricht durchgenommen hatten. Alle in der Klasse hatten sich über die antiquierte Sprache des Autors lustig gemacht, aber ihn hatte die Erzählung gleich so sehr gefesselt, dass er sie zu Haus an einem Nachmittag und Abend verschlungen hatte. Die Deutschlehrerin hatte den Anfang daraus vorgelesen und gefragt, wer das Buch lesen und darüber ein Referat halten wolle. Robert hatte sich gemeldet, als Einziger. Seine Klassenkameraden hatten gedacht, dass er nur seinen Punktedurchschnitt fürs Abitur auf bequeme Weise verbessern wolle. Aber zu Haus hatte er das Buch aufgeschlagen und war sogleich so gefangen gewesen, dass er es noch am selben Tag durchgelesen hatte.
Er stand da, hielt das Buch in der Hand. Aus dem Leben … Einen Augenblick überlegte er, ob er es einfach mitnehmen solle, ohne zu fragen. Aber da wachte Frau Sternheim mit einem kleinen Seufzer wieder auf.
Oh, mein Gott, sagte sie. Jetzt schlaf ich doch tatsächlich schon ein, während mir vorgelesen wird. Wie spät ist es?
Fünf durch, sagte Robert.
Na, dann sollten Sie jetzt gehen. Sonst kriegen Sie wieder Ärger mit Ihrem Vater.
Ja, sagte Robert.
Er zögerte noch, hielt das Buch in der Hand, war drauf und dran, es wieder ins Regal zu stellen, fragte dann aber doch: Kann ich mir dieses Buch ausleihen?
Aber ja, sagte Frau Sternheim. Nehmen Sie nur, was Ihnen gefällt. Was ist es denn?
Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts.
Jaja, sagte sie. Genau das Richtige für Sie.
Sie sagte es mit einer Bestimmtheit, als könne es gar keinen Zweifel daran geben, dass dieses Buch speziell für ihn, Robert, geschrieben sei.
Robert liegt auf seinem Bett, hält das aufgeschlagene Buch in der Hand und denkt, wie merkwürdig es ist, dass er gerade jetzt wieder auf dieses Buch gestoßen ist.
... wenn ich ein Taugenichts bin, so ists gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen.
Es ist die Leichtigkeit, mit der hier alles geschieht, die ihn in ihren Bann zieht. Als ob ein Wind vom Paradies her wehte, ein fächelnder, lockender Wind, der das Aroma des Gelingens mit sich führt. Man braucht nur den Fingerzeigen zu folgen, die überall am Wege liegen, um traumhaft sicher ans Ziel zu gelangen.
Spring Er nur hinten mit auf, wir fahren nach Wien.
Robert liest es und träumt. Er träumt davon, in die Welt hinauszugehen, alles Beengende hinter sich zu lassen, er fühlt sich reich, so reich, dass er überfließt vor mitteilender Güte.
Aber dann klopft es an der Tür und die Mutter steht im Zimmer.
Wie war es auf der Polizei?
Die Polizei?
Es scheint, dass Robert eine Weile braucht, bis er den Sinn der Frage begreift.
Sie wollten wissen, ob ich gesehen habe, wie ein Auto eine Frau angefahren hat. Aber ich habe nichts gesehen.
Und wie sind sie gerade auf dich gekommen?
Es ist passiert, kurz nachdem das Schock zugemacht hat, sagt er. Da fragen sie halt alle, die im Schock waren.
21
WISSEN SIE, WIE ES Frau Abel geht?, fragt Robert Herrn Wesendonk, als er am Montag die Geschäftsstelle der Altenhilfe betritt. Herr Wesendonk zuckt die Achseln. Er sitzt am Tisch, hat einen winzigen Schraubenzieher in seiner riesigen Rechten und versucht damit den Schalter der Schreibtischlampe von Frau Stechapfel zu reparieren.
Musst du drüben fragen.
Drüben, das ist das Büro, in dem Frau Stechapfel bei halb offener Tür telefoniert. Als sie endlich den Hörer auflegt, geht Robert hinein. Ob sie etwas von Frau Abel gehört habe.
Nein, sagt sie. Die wird noch im Krankenhaus sein. Wenn sie entlassen worden wäre, wüsste ich das.
Robert nickt. Ein gebrochener Arm, bei alten Menschen kann so etwas lange dauern. Er wird sie besuchen, um zu sehen, wie es ihr geht, in der Mittagspause,
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