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Die schönste Zeit des Lebens

Die schönste Zeit des Lebens

Titel: Die schönste Zeit des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Langen Müller
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blieb stehen.
    Links, das dritte Brett von oben, sagte sie. Rainer Maria Rilke, Die Duineser Elegien.
    Robert wandte sich dem Regal zu, fand nach einigem Suchen den schmalen Band, zog einen Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber und schlug ihn auf. Die erste Elegie. Er blickte auf, sah, dass Frau Sternheim die Brille abgenommen hatte und, die Augen weit geöffnet, an ihm vorbei in das helle Sommerlicht schaute, das durch die Fenster hereindrang. Noch immer war der Ausdruck der Bestürzung auf ihrem Gesicht. Als sähe sie etwas da draußen in der sommerlichen Helligkeit jenseits des Fensters, das ihr vielleicht aus einem bösen Traum vertraut war, das sie aber nie und nimmer dort draußen vermutet hätte.
    Soll ich uns noch schnell neuen Tee machen?, fragte Robert.
    Nein, nein, sagte sie. Lesen Sie! Lesen Sie nur!
    Die erste Elegie , las Robert.
    Was ist das noch mal, eine Elegie?
    Eine Elegie, sagte Frau Sternheim, ist ein nachdenkliches, meist ein wenig schwermütiges Gedicht.
    Schwermütig. Robert sah erst sie, dann das Buch in seiner Hand misstrauisch an. Als er schließlich, stockend und unsicher, zu lesen begann, setzte sie nach einer Weile fast unhörbar ein und, allmählich die Stimme erhebend, zwang sie ihn, der sich mit der ungewohnten Syntax des Textes schwertat, sich ihrem Rhythmus anzupassen. Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme / einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem / stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen …
    Später, als Robert schon auf dem Heimweg war, fiel ihm ein, dass es fast wie in der Kirche gewesen war, als hätten sie zusammen ein Gebet gesprochen. Sie konnte das ganze lange Gedicht auswendig:
    O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum / uns am Angesicht zehrt …
    Was waren das für Worte? Wer sprach sie und an welchem Ort?
    Im Nachhinein kommt Robert die Szene ganz unwirklich vor. Als hätte Frau Sternheim ihn mit ihrer leisen Stimme in eine Trance versetzt oder er selbst hätte, sich dem Auf und Ab ihrer Stimme überlassend, vorübergehend den Kontakt zur Wirklichkeit verloren, wäre in eine Traumwelt eingetreten, in der die Wörter wie lebendige Wesen in einer Art Prozession an ihm vorüberzogen. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, / kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben … An dieser Stelle hatte sie ihn plötzlich unterbrochen.
    Robert?
    Ja?
    Haben Sie Angst, Robert?
    Sie sah ihn nicht an, ihr Blick blieb an ihm vorbei ins Weite gerichtet.
    Angst? Ich? Warum?
    Wir haben alle Angst, Robert. Auch ich, obwohl ich schon so alt bin, dass ich mich eigentlich vor nichts mehr fürchten sollte. Nicht einmal vor dem Tod. Die Empfänglichkeit für das Schöne, das ist unsere offene Flanke; wenn wir uns dem Schönen öffnen, sind wir verwundbar.
    Sie schwieg, seufzte fast unhörbar, und als Robert, der nicht wusste, was er dazu sagen sollte, nach einigem Zögern gerade mit dem Lesen fortfahren wollte, fügte sie hinzu:
    Sie müssen mir eines versprechen, Robert: Gehen Sie der Angst nicht aus dem Weg. Versprechen Sie mir das?
    Was meinte sie damit: der Angst nicht aus dem Wege gehen? Als er sich von ihr verabschiedete, hielt sie lange seine Hand und erinnerte ihn noch einmal an das Versprechen. Es war eine merkwürdige Dringlichkeit in ihrer Stimme. Jetzt, auf dem Bett liegend, glaubt Robert für einen Moment an der Zimmerdecke Frau Sternheims feines, fast durchsichtiges Gesicht zu sehen. Wie hieß es in dem Gedicht? … das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang … Robert spürt wieder den leichten Schwindel, der ihn erfasste, als er, gestützt und geführt durch Frau Sternheims leise, aber eindringliche Stimme, Zeile um Zeile dieses merkwürdigen Gedichtes las, das gleiche leichte Schwindelgefühl, das ihn einmal erfasst hatte, als er in einer klaren Nacht, vom Schock heimkommend , lange am Gartentor gestanden und in den Sternenhimmel hinaufgeschaut hatte.
    Es ist still im Haus, der Vater ist auf der Veranda, eine Zigarette rauchend steht er da und schaut nachdenklich in den Garten hinaus, die Mutter ist noch nicht von der Arbeit zurück. Zwischenzeit. Robert kann sie geradezu spüren, die Unentschiedenheit, wie alles für einen Moment den Atem anhält. Draußen das weiche Licht, nicht mehr glänzend, noch nicht fahl, kein Laut dringt zum offenen Fenster herein, die Vögel in den Baumkronen warten

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