Die schönste Zeit des Lebens
Kuss?
Als er nach einer guten halben Stunde endlich aus dem Badezimmer kommt, steht der Vater vor ihm.
Was hast dich denn so aufgeputzt, fragt er.
Wieso aufgeputzt, sagt Robert. Ich hab nur mal ein anderes Hemd angezogen.
Gleich darauf sieht Egon Markmann seinen Sohn, den Hemdkragen aufgestellt, Blumen in der einen, den Fahrradlenker mit der anderen Hand haltend, auf dem Bürgersteig davonfahren. Er weiß nicht, warum, aber es gibt ihm einen Stich ins Herz, seinen Jungen so davonfahren zu sehen. Ich in seinem Alter, denkt er, und dann weiß er auf einmal nicht mehr, was ihm da soeben in den Sinn kam und sogleich wieder wie ausgelöscht ist. Merkwürdig, wie melancholisch Sommerabende sein können, wenn es still ist im Haus und man aus dem Fenster schaut, obwohl es dort eigentlich nichts Besonderes zu sehen gibt. Aber vielleicht schaut Egon Markmann gar nicht aus dem Fenster nach draußen, sondern in sich hinein, und weiß es nur nicht.
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EDITH STEHT IM BADEZIMMER vor dem Spiegel und betrachtet ihre Brüste. Heute ist sie nicht mit dem Kleinbus heimgekommen. Als sie fertig war mit Putzen und vor dem Eingang des Bürogebäudes auf Herrn Wessels wartete, kam plötzlich Werner angefahren, kurbelte das Fenster runter und rief: Steig ein! Ich hab Neuigkeiten.
Was für Neuigkeiten?
Egon kriegt den Job, sagte er.
Ist das wahr? Mensch, Werner … Sie nahm Werners Kopf in beide Händen und küsste ihn auf die Wangen. Und wann kann er anfangen?
In zwei Wochen. So lange bleibt der Kovac noch.
Als Herr Wessels kam, ließ Edith sich von ihm den Umschlag mit dem Geld geben und stieg zu Werner ins Auto.
Oh, Werner, sagte sie, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.
Ich wüsste schon, wie, sagte Werner und grinste.
Edith tat, als hätte sie Werners Blick und das Grinsen nicht bemerkt. Du musst demnächst einmal zu uns zum Essen kommen, sagte sie. Das muss gefeiert werden.
Als sie die Bredowstraße erreichten, stoppte Werner den Wagen ein wenig vom Haus entfernt, und als sie noch einen Augenblick nebeneinander im Auto saßen, griff er Edith auf einmal an die Brust. Einfach so. Erst nahm er die eine Brust in die Hand, drückte sie leicht, wie um ihre Festigkeit zu prüfen, dann die andere, und sie ließ es sich gefallen, sagte nichts, saß stumm da mit in sich gekehrtem Blick, als versuchte sie sich zu erinnern, was das zu bedeuten habe, diese Hand an ihrer Brust. Aber als Werner sie küssen wollte, da wehrte sie ihn ab.
Danke, Werner, sagte sie. Danke für alles.
Nun vor dem Spiegel stellt sie fest, dass ihre Brüste tatsächlich schön sind, schön und fest, und sie fühlt Werners Hand, fühlt den sanften Druck und die leichte Erregung, die wie eine wärmende Welle durch ihren Körper geht. Wie es gewesen wäre, denkt sie für einen Augenblick, wenn er ihre Bluse aufgeknöpft und den Büstenhalter gelöst hätte, damit sich seinem Blick bestätige, was seine Hände erfühlten. Und dann ist da plötzlich dieses Bild, wie sie im weißen Bademantel einen Saal betritt, einen Saal voller Menschen, in der ersten Reihe Herr Wessels, Werner, Fred, sogar ihren früheren Chef vom Aldi sieht sie dort sitzen, nicht aber Egon, der sitzt im Wohnzimmer vor dem Fernseher, hat keine Ahnung, was hier geschieht. Sie sieht, wie alle Augen auf sie gerichtet sind, während sie auf hochhackigen Schuhen mit wiegenden Hüften näher kommt, langsam, ganz langsam, wie unter einem unerbittlichen Zwang und dennoch bereitwillig den Bademantel öffnet und ihn nach hinten über die Schultern zu Boden gleiten lässt und sich der Menge – erst jetzt erkennt sie, dass es sich um lauter Männer handelt – in ihrer ganzen Blöße darbietet.
Sie hat geduscht, wie sie es immer tut, wenn sie abends von der Arbeit heimkommt, hat lange unter dem warmen Wasserstrahl gestanden, bis die Verspannung in ihrem Rücken und ihren Armen wich. Jetzt steht sie nackt vor dem Spiegel und stellt sich Dinge vor, die sie in Wirklichkeit niemals tun würde, stellt sie sich vor, während Egon, ihr Mann, nur wenige Meter entfernt im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat sitzt. Er weiß nichts von ihren kühnen Träumen. Überhaupt weiß er wenig über sie. Sie hat ihm, als sie heimkam, auch nicht erzählt, was sie von Werner erfahren hat. Werner wird morgen früh anrufen und es ihm persönlich sagen. Und warum war es dann so wichtig, dass sie es schon heute erfuhr?
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DAS ESSEN BEI DEN SAHABIS war für Robert eine Prüfung. Sie waren nicht zu dritt, wie er erwartet
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