Die schönste Zeit des Lebens
alle mit ihrem Charme zu bezirzen. Er solle nur ja nicht zu nachsichtig mit ihr sein. Ob er sich einmal ihren Kleiderschrank angesehen habe? Sie sei fast in Ohnmacht gefallen, als sie das Schlafzimmer betreten habe. Die Türen des Kleiderschranks seien gar nicht mehr zugegangen, Kleider, Wäsche, Strümpfe, Hosen, alles habe ihre Mutter einfach in die Fächer gestopft. Wenn man sie nicht ab und zu etwas härter anpacke, lasse sie sich gehen. Das sei mit älteren Menschen nun mal so. Und sie als Tochter möchte nicht mit ansehen müssen, wie ihre Mutter verwahrlose.
Die nette Frau Klein ein Fall von Verwahrlosung? Robert kennt nur das Wohnzimmer, und dort sieht es nicht anders aus als in anderen Wohnzimmern auch.
Ja, sagt Robert. Danke für den Hinweis. Ich werde in Zukunft darauf achten, dass sie besser aufräumt.
Aber als er sein Fahrrad aufschließt, um zu Frau Sternheim zu fahren, denkt er, dass es doch wohl ein Glück für Frau Klein ist, dass ihre Tochter sich sonst das ganze Jahr nicht um sie kümmert.
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HEUTE LEHNT SIE NICHT AB , als Robert ihr anbietet, ihr beim Servieren des Tees zu helfen. Er steht in der Küche, sieht, wie sie mit fahrigen Bewegungen das Teelicht, die Teekanne und die Tassen auf das Tablett stellt, einen Augenblick innehält und ihre leicht zitternde Hand über die Dinge gleiten lässt, als wolle sie nachzählen, ob etwas fehlt.
Die Kandis, sagt Robert.
Sie dreht sich zu ihm um, ihre Augen hinter der Brille: schreckensweit.
Ja, sagt sie dann mit einem Lächeln, das Robert ins Herz schneidet. Die Kandis. Ich wusste, dass etwas fehlt.
Als sie sich gegenübersitzen und Tee trinken, ist sie ganz aufgekratzt. Robert könne sich gar nicht vorstellen, was ihr diese Nachmittage mit ihm bedeuteten. Die Literatur sei ihr ein und alles, vor allem die Poesie. Dass sie selbst nicht mehr lesen könne, sei eine Strafe, die sie bei allem, was sie sich im Leben habe zuschulden kommen lassen, doch nicht verdient habe. Ob er, Robert, Gedichte liebe? Rilke sei vielleicht als Einstieg etwas schwierig, noch dazu die Duineser Elegien. Er solle nur ja nicht denken, dass die Poesie immer düster sein müsse. Heine zum Beispiel. Ob er Heinrich Heine kenne?
Ja, sagt Robert. In der Schule hätten sie etwas von Heine gelesen: Die Loreley und Auszüge aus Deutschland, ein Wintermärchen.
Na also. Frau Sternheim ist beeindruckt. Und Hofmannsthal?
Da muss Robert passen. Nein, Hofmannsthal nicht. Der Name sagt ihm nichts.
Dann lesen wir heute einige Gedichte von Hofmannsthal, sagt Frau Sternheim.
Sie sagt es bestimmt, fast ein wenig streng. Aber gleich darauf lacht sie ihr helles Lachen.
Mein Gott! Jetzt ist die Lehrerin mit mir durchgegangen. Entschuldigen Sie, Robert. Ich bin furchtbar. Nach all den Jahren kommt bei mir immer noch ab und zu die Lehrerin durch. Aber so etwas wird man wohl nie los. Wir können natürlich auch etwas anderes lesen, wenn Sie Hofmannsthal nicht mögen. Wollen Sie lieber etwas anderes?
Nein, nein. Robert ist schon aufgestanden. Gedichte interessieren mich sehr.
Na dann, sagt Frau Sternheim.
Sie steht auf, geht mit kleinen unsicheren Schritten hinüber zu ihrem Zuhörsessel, setzt sich, nimmt die Brille ab, legt sie auf die Armlehne und sagt: Ganz links, zweites Brett von unten. Eine zweibändige Ausgabe. Die Gedichte müssten im ersten Band zu finden sein.
Robert geht vor dem Bücherregal in die Hocke, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, liest er die Namen, die auf den Buchrücken stehen: Fontane, Tschechow, Klopstock, Tibor Déry, Heimito von Doderer, Hofmannsthal , Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Er nimmt den ersten Band aus dem Regal: Gedichte und Dramen .
Ob er die Ballade des äußeren Lebens finden könne, sagt Frau Sternheim, als er wieder Platz genommen hat. Sie müsse ziemlich weit vorn in dem Band abgedruckt sein.
Robert blättert. Schließlich, als er sie gefunden hat, fragt er: Soll ich sie lesen?
Ja, sagt Frau Sternheim. Lesen Sie bitte.
Ballade des äußeren Lebens , liest Robert.
Aber dann unterbricht er sich, weil ihm etwas im Kopf herumgeht, etwas, das ihm plötzlich so dringlich erscheint, dass es keinen Aufschub duldet.
Frau Sternheim?
Ja?
Darf ich Sie etwas fragen?
Natürlich dürfen Sie.
Wie haben Sie herausgefunden, was für Sie das Richtige ist im Leben?
Frau Sternheim zieht die Augenbrauen hoch, schweigt lange, seufzt dann und sagt: Als ich jung war, habe ich getan, was man von mir erwartete. Oder ich habe rebelliert und genau das
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