Die schönste Zeit des Lebens
zu wissen, wer man ist.
Robert hat den ganzen Vormittag bei dem Ehepaar Meergans zugebracht. Herr Meergans ist fast achtzig, er leidet an Muskelschwund und kann sich auch im Rollstuhl nur mit äußerster Anstrengung bewegen, sie ist zehn Jahre jünger, robust, aber von einer Dumpfheit, die an Schwachsinn grenzt. Als Robert kam, hörte er schon im Treppenhaus, wie sie sich stritten. Sie schrien so laut, dass sie sein Klingeln nicht hörten und er den Wohnungsschlüssel benutzen musste. Es ging wie immer um Geld. Frau Meergans stand im Wohnzimmer, den Rücken gegen die Kommode gepresst, die Arme vor der Brust verschränkt, und machte ein trotziges Gesicht. Vor ihr ihr Mann in seinem Rollstuhl zeterte, sie solle die Schublade freigeben.
Versuch’s doch! Versuch’s doch!, giftete sie zurück.
Als Robert ins Zimmer trat, verstummten sie für einen Moment, fingen aber gleich wieder an, sich anzuschreien. Schließlich drehte sich Herr Meergans in seinem Rollstuhl um und verlangte von Robert, er solle in der oberen Schublade der Kommode nachsehen, wie viel Geld unter den Prospekten liege.
Schauen Sie nach!, schrie er. Ihnen kann sie es nicht verwehren.
Robert hat schon eine gewisse Routine im Umgang mit hilflosen und bösen alten Menschen. Vor zwei Monaten hätte ihn eine solche Situation noch völlig überfordert. Jetzt schiebt er Herrn Meergans einfach ans Fenster, setzt sich ihm gegenüber in den Sessel, nimmt einen Zettel und einen Stift und fragt: Was soll ich für Sie einkaufen, Herr Meergans?
Das Geld, schreit Herr Meergans mit seiner zittrigen Fistelstimme. Sie müssen nachsehen, wie viel Geld in der Schublade ist.
Das Geld, sagt Robert, das hole ich mir dann schon. Zuerst machen wir einmal die Einkaufsliste.
Niemand hat ihn auf Situationen wie diese vorbereitet. Aber mittlerweile weiß er, was zu tun ist, tut es mit erstaunlicher Selbstsicherheit. Was ihn selbst verblüfft: Er verfügt über so etwas wie Autorität, er, der um so vieles Jüngere, schafft es mit souveräner Gelassenheit, die Situation zu beruhigen. Vielleicht ist ja das, was andere unsere Persönlichkeit nennen, nichts anderes als der Niederschlag einer gewissen Routine.
Robert sitzt im Bunsenpark auf einer Bank und macht Mittagspause. Er sitzt unter einer Rotbuche, um ihn herum fällt sanft der Regen zu Boden. Das leise Rauschen hüllt ihn ein, versetzt ihn in eine schläfrige Wachheit. Gedämpft nur dringen die Geräusche der Stadt zu ihm. Erwachsen sein, was heißt das eigentlich? Andy ist erwachsen, obwohl er gerade mal zwei Jahre älter ist als Robert. Die Eltern sind erwachsen. Erwachsen sein heißt, für jedermann erkennbar so zu sein, wie man ist. Robert weiß nicht, wie er ist. Er träumt davon, in die Welt hinaus zu gehen, von Station zu Station einem vorgezeichneten Weg zu folgen, und am Ende ist er der, der diesen Weg gegangen ist.
Gestern am Alten Forsthaus hat Fari plötzlich zu ihm gesagt: Du bist so ernst. Das mag ich an dir.
Noch jetzt spürt er, wie erst ein leichter Schreck, dann ein Glücksgefühl ihn durchfuhr, als sie das sagte. Er ist ernst, er ist nachdenklich, will es allen recht machen, kann nichts auf die leichte Schulter nehmen. Sie mag das, hat sie gesagt. Aber er träumt davon, als Taugenichts unbekümmert in die Welt zu ziehen. Einmal hat er gehört, wie Herr Wesendonk zu Frau Stechapfel sagte: Den Robert wirft so leicht nichts um. Herr Wesendonk meinte es als Anerkennung, das konnte man hören. Ist er auch das? Der, den so leicht nichts umwirft?
Robert hat auf einmal das deutliche Gefühl, dass etwas in seinem Leben zu Ende geht und etwas Neues, Ungewisses beginnt. Noch nie hat er sich gefragt, wie es wohl wäre, wenn er in zehn, zwanzig Jahren auf sein jetziges Leben zurückblicken würde. Aber jetzt auf einmal sieht er sich auf einer Bank in einem Park, das Fahrrad hinter ihm an den Stamm eines Baums gelehnt, er sieht einen jungen Mann, von dem er sagt: Das bin ich, ich als Zivi, kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag, in einem Park in meiner Heimatstadt. Damals wusste ich noch nicht, wer ich war.
Man kann etwas suchen, ohne zu wissen, was man sucht, und wenn man es gefunden hat, weiß man, dass es genau dies war, was man zu finden hoffte. Robert hat das Gefühl, dass er einem Geheimnis auf der Spur ist, einem Geheimnis, das unter dem Schleier dieses leisen Sommerregens verborgen ist. Es kann nicht mehr lange dauern, dann wird es sich ihm enthüllen. Ist es Fari, die ihm diese Zuversicht einflößt?
Weitere Kostenlose Bücher