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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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wund gerieben, die Knie schlotterten. Er hätte jetzt gern eine Weile ausgeruht, aber das ging nicht – er wäre nicht bis zum Sonnenuntergang hingekommen. Die Sonne wartete nicht, sie sank unaufhaltsam immer tiefer und tiefer. Ach, dachte Pachom, ob ich mich womöglich verrechnet habe und in zu großem Bogen herumgegangen bin? Und wie nun, wenn ich zu spät komme? Immer wieder blickte er bald auf den vor ihm liegenden Schichan, bald auf die Sonne. Bis zum Ziel war es noch weit, die Sonne aber war nicht mehr weit vom Horizont entfernt.
    So erschöpft Pachom auch war, er hastete immer schneller vorwärts. Noch immer lag das Ziel in weiter Ferne – er begann zu laufen. Er warf alles von sich – sein Wams, die Stiefel, die Feldflasche, die Mütze – und behielt nur die Schippe in der Hand, um sich auf sie zu stützen. Ach, dachte er, ich habe zu viel haben wollen und damit alles verdorben, jetzt komme ich bis Sonnenuntergang nicht hin! Und vor lauter Angst kam er noch mehr außer Atem. Sein Hemd und die Hosen waren nass vom Schweiß und klebten am Körper, sein Mund war ausgetrocknet. Seine Brust arbeitete wie ein Blasebalg in der Schmiede, das Herz hämmerte, er strauchelte über die eigenen Füße. Da wurde ihm angst und bange: Wenn ich bloß nicht noch vom Schlag gerührt werde vor Überanstrengung!, dachte er.
    Zu sterben fürchtete sich Pachom, aber seinen Lauf abzubrechen, das brachte er nicht über sich. Wenn ich jetzt, nachdem ich eine so große Strecke zurückgelegt habe, das Ganze aufgebe, dann werden mich alle auslachen wie einen Narren, dachte er. Und er rannte weiter, kam dem Schichan immer näher und konnte schon hören, wie die Baschkiren schrien und ihm etwas zuriefen. Durch ihr Geschrei noch mehr in Hitze geraten, nahm Pachom seine letzte Kraft zusammen und stürmte weiter. Aber die Sonne hatte sich immer mehr dem Horizont genähert, war von Dunst verschleiert und sah jetzt aus wie ein großer, blutroter Ball. Noch wenige Augenblicke – und sie würde untergehen. Die Sonne war nahe am Untergehen, doch auch bis zu seinem Ziel war es nicht mehr weit. Pachom sah bereits, wie die auf dem Schichan stehenden Menschen mit den Händen fuchtelten, um ihn anzuspornen. Er sah die sich am Boden abzeichnende Fuchsfellmütze und das auf ihr liegende Geld; er sah auch den Baschkirenältesten, der auf dem Boden hockte und sich den Bauch hielt. Und Pachom erinnerte sich seines Traumes. Land hab ich mir in Hülle und Fülle verschafft, dachte er, aber Gott weiß, ob es mir vergönnt sein wird, es zu nutzen. Ach, ich habe mich ins Verderben gestürzt – ich komme nicht hin!
    Pachom warf nochmals einen Blick auf die Sonne: Ihr unterer Rand war schon hinter dem Horizont verschwunden, und der obere wölbte sich wie ein Bogen über der Erde. Pachom raffte sich zu einer letzten Anstrengung auf, lief mit weit vorgebeugtem Oberkörper und konnte kaum schnell genug die Füße nachziehen, um nicht zu fallen. Als er vor dem Schichan anlangte, wurde es plötzlich dunkel. Er blickte sich um: Die Sonne war schon untergegangen. Pachom stieß einen Seufzer aus. Ach, dachte er, alle meine Anstrengungen sind jetzt vergebens gewesen! Er wollte schon stehenbleiben, doch als er die Baschkiren auch jetzt noch johlen hörte, wurde ihm bewusst, dass es nur von unten so aussah, als sei die Sonne schon untergegangen, während die Spitze des Hügels von ihr wahrscheinlich noch beschienen war. Pachom schöpfte tief Luft und stürmte den Schichan hinauf. Oben war es noch hell. Er kam oben an und erblickte die Mütze. Vor der Mütze hockte der Älteste, lachte und hielt sich mit den Händen den Bauch. Da fiel Pachom wieder sein Traum ein; er stöhnte auf, seine Beine knickten ein, er stürzte vornüber zu Boden und konnte mit den Händen gerade noch die Mütze fassen.
    »Ei, was für ein Teufelskerl!«, rief der Älteste. »Hast dir ein tüchtiges Stück Erde verschafft!«
    Pachoms Knecht sprang hinzu und wollte ihn aufrichten; aber aus seinem Mund strömte Blut, er lag entseelt am Boden.
    Die Baschkiren schnalzten mit den Zungen, sie bedauerten ihn.
    Da hob der Knecht die Schippe auf und grub für Pachom ein Grab; es war drei Arschin lang, gerade so groß, wie Pachom vom Kopf bis zu den Füßen war.
    1886
     

DREI TODE
     
    1
     
    Es war Herbst. Über die breite Landstraße rollten in schneller Fahrt zwei Wagen. Im ersten, einer geschlossenen Kutsche, saßen zwei Frauen. Die eine war eine magere, blasse Dame; die andere, ihr Stubenmädchen,

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