Die schottische Braut
Ihr müsst ihn sehr vermissen.«
Das entsprach tatsächlich der Wahrheit. Obwohl er Kieran nicht mehr gesehen hatte, seit er ungefähr in Jamies Alter gewesen war, erinnerte er sich voller Zuneigung an seinen jüngeren Bruder. Das Wissen, dass seine Brüder alle zu Hause und wohl versorgt waren, war das Einzige gewesen, das die Hölle, in der er aufgewachsen war, erträglich gemacht hatte. Wenn er die Schläge von Harold und den anderen erdulden musste, hatte er sich immer wieder gesagt, dass, wenn er nicht wäre, einer seiner Brüder an seiner Stelle diese Qualen hätte durchleiden müssen.
Besser er wurde misshandelt und erniedrigt als einer von ihnen. Sie waren gut und anständig und verdienten nur das Beste, was das Leben ihnen zu bieten hatte.
»Wir haben auch einen Bruder«, meldete sich Jamie zu Wort. »Dermot, den Dorfdeppen.«
»Jamie!«, wies ihn Callie zurecht. »Dafür würde er dir den Kopf abreißen.«
»Das ist aber immer noch besser als das, was er immer zu mir sagt.«
»Euer älterer Bruder?«, fragt Sin sie.
»Nein, ich bin die Älteste.«
Er nickte. »Das erklärt einiges.«
»Was denn?«
»Wie Ihr Jamie behandelt. Warum Ihr so entschlossen seid, nach Hause zu kommen, obwohl Ihr wisst, dass Ihr keine Chance habt.«
Callie runzelte die Stirn. »Ihr seid auch der Älteste ?«
Seine Antwort bestand aus einem kaum merklichen Nicken.
Vor den Ställen zügelten sie die Pferde. Simon stieg mit Jamie im Arm ab, während Sin absaß und ihr dann aus dem Sattel half.
»Simon, kannst du sie auf ihr Zimmer zurückbringen, ohne ...«
Simon räusperte sich laut. »Vergiss nicht, das wird nicht erwähnt.«
Sin lächelte trocken. »Gut. Kannst du sie auf ihr Zimmer bringen, ohne dass das, was von heute an auf immer unerwähnt bleiben wird, wieder geschieht? Oder muss ich auch noch eine Leibwache für dich anheuern?«
Callie biss sich übermütig auf die Lippe. »Wir werden artig mit Simon spielen, nicht wahr, Jamie?«
»Wie du willst, Callie.«
Sie beobachtete, wie Sin sich mit festen Schritten entfernte. Dann griff sie nach Jamies Hand und ging mit ihm zurück in die Burg, Simon an ihrer Seite. »Simon, wie lange kennt Ihr Lord Sin?«
»Er war neun, als König Stephan ihn in die Obhut meines Stiefvaters gab.«
Also eine lange Zeit. Das war gut. Vielleicht konnte dieser Ritter ihr helfen, den Mann zu verstehen, der ihr Gemahl werden würde.
Als sie die Burg betraten, ließ Jamie ihre Hand los und rannte vor ihnen die Treppe hinauf.
»Wisst Ihr, warum er so traurig ist?«, fragte sie.
Simon schaute sie misstrauisch an. »Woher ...«
»Seine Augen. Er verbirgt es gut, aber ab und zu kann ich es sehen.«
Simon holte tief Luft. Während sie die dunkle Treppe emporstiegen, begann ein Muskel in seiner Wange zu zucken, als ränge er mit sich, ob er ihr etwas über seinen Freund verraten sollte. Schließlich bemerkte er: »Er hat viele Gründe dafür, Mylady.«
»Welche zum Beispiel?«
»Ich war noch ein kleiner Junge, als Sin zu uns gebracht wurde, aber ich erinnere mich noch lebhaft an diese Nacht. König Stephans Männer waren auf der langen Reise zu uns unfreundlich und grob zu ihm gewesen. Als er die große Halle betrat, waren seine Augen schwarz von den vielen Schlägen. Seine Nase blutete, und Mund und Kinn waren geschwollen. Es sah aus, als hätten sie ihn den ganzen Weg nach Ravenswood über die unwegsamsten Straßen gezerrt, die sie finden konnten.
Sie hatten ihm Eisen um Hals und Hände gelegt. Trotzdem stand er aufrecht und stellte sich Harold of Ravenswood mit einer Stärke und Würde, die nur wenige Männer besaßen. Der alte Earl war für seine Grausamkeit und seine Brutalität bekannt, sodass selbst die Tapfersten erblassten, wenn sein Blick auf sie fiel. Und da war nun ein Junge, der ihn ohne mit der Wimper zu zucken anschaute. Ein Junge, der die Lippen verächtlich verzogen hatte und den Earl aus zusammengekniffenen Augen hasserfüllt anstarrte. Harold fragte ihn, wie es käme, dass er so mutig vor ihm stand.«
Simon senkte seine Stimme zu einem Flüstern und beugte sich vor, sodass Jamie ihn nicht verstehen konnte. »Sin erklärte, dass er eine Ausgeburt der Hölle sei, geboren aus dem Schoß einer Hure und gezeugt von einem herzlosen Bastard.«
Bei diesen abscheulichen Worten stöhnte sie unwillkürlich laut auf. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ein Kind so etwas äußerte.
»Er sagte Harold, dass er keine Seele habe und ihn nichts verletzen könnte, was Harold ihm
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