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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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es darum geht, sich ein Bild von dem Opfer zu machen. Carl war athletisch und viel anmutiger, als man erwarten würde; auf jeden Fall bewegte er sich viel weniger unkoordiniert als die meisten Jungen seines Alters, meinen Sohn Evan eingeschlossen. Er wurde für mich zum Symbol, ein Amalgam aller verschwundenen Jungen. Ich beobachtete, wie er mit den Leuten in seiner Umgebung interagierte, vor allem mit seiner Mutter. Von den anderen hatte ich nichts als die von Hoffnung gefärbten Erinnerungen, die ihre Lieben mir lieferten, um zu einem Verständnis des Wesens des jeweiligen Jungen zu kommen. Nicht so bei Carl und seiner Mutter – sie präsentierten mir ein erlesenes kleines Spiel familiärer Vertrautheit. Er wechselte hin und her zwischen kindlicher Nähe und pubertärer Verschlossenheit. Sie war zuerst fast sprachlos vor Wut, doch dieses Gefühl versteckte sie ziemlich gut, bis es sich schließlich in tiefer Erleichterung auflöste.
    Wir hatten sie in das beste Vernehmungszimmer gebracht, das wir normalerweise für nicht gewalttätige, kooperative Zeugen oder verzweifelte Opfer nutzen. Die Stühle waren gepolstert und das Licht weich. Ich ließ ihnen zuerst ein wenig Zeit für sich, und als sie sich dann einigermaßen beruhigt hatten, unterhielten wir uns eine Weile, vor allem darüber, was für ein Glück Carl gehabt hatte, entkommen zu können. Escobar kam mit Jake herein – wir hatten ein »beiläufiges« Dazukommen vereinbart – und konzentrierte sich auf Carl. Sobald er den Jungen in ein Gespräch verwickelt hatte, nahm ich die Mutter beiseite und fragte sie, ob sie mit mir für ein paar Minuten den Raum verlassen wolle, damit ich ihr ein paar Routinefragen zur Vervollständigung meiner Unterlagen stellen könne. Meine eigentliche Absicht war jedoch, Jake und Carl allein in dem Zimmer zu haben, damit ich sehen konnte, wie Carl auf den Freund ihrer Mutter reagierte, wenn sie nicht dabei war.
    Er rannte los, warf sich in die Arme des Mannes und sagte immer wieder seinen Namen.
    Ich wusste, dass das nicht du warst, Jake, ich wusste einfach, dass du mir nie was tun würdest.
    Diese Szene betrübte mich sehr. Allen diesen Jungs, wo und in welchem Zustand sie jetzt auch sein mochten, war das Vertrauen in einen geliebten Erwachsenen zerstört worden – das verstört ein Kind, wie man es sich nicht vorstellen kann –, und dann wurden sie von einem Fremden angegriffen.
    Nach wenigen Minuten brachte ich die Mutter ins Zimmer zurück. Jake hatte dem Jungen den Arm um die Schultern gelegt, und in diesem beruhigenden Körperkontakt entspannte Carl Thorsen sich so sehr, dass er dem Zusammenbruch nahe war. Wahrscheinlich hatte bis jetzt das Adrenalin ihn angetrieben, doch nun brach der Schock durch. Immer wieder musste er kurz innehalten und sich sammeln, während er seine Geschichte noch einmal erzählte, diesmal mit mehr Details.
    »Ich konnte das Auto schon hören, als es um die Kurve kam. Ich drehte den Kopf nach links und schaute irgendwie so über die Schulter. Es sah ein bisschen aus wie Jakes Auto, aber seins sieht aus wie ein Haufen anderer Autos, heller Lack, kein Offroader. Und nach ein paar Sekunden hörte ich, dass es langsamer wurde. Sie wissen schon, man kann hören, dass Reifen langsamer über irgendwelches Zeug auf der Straße knirschen. Das machte mich ein bisschen nervös.
    Das Auto fuhr dann ganz dicht an den Bürgersteig, so dass die Reifen ihn fast berührten, und wurde so langsam, dass es auf gleicher Höhe mit mir blieb. Dann fuhr es ein Stück voraus. Die Beifahrertür ging auf – der Kerl hat wahrscheinlich mit der rechten Hand über den Sitz gelangt und sie aufgestoßen –, aber die Stimme kam mir nicht bekannt vor. Als ich ins Auto schaute, sah ich einen Typ, von dem ich dachte, es ist Jake, also ging ich näher ran. Ich fragte ihn, was mit seiner Stimme los ist, und er räusperte sich laut und sagte, er sei erkältet. Dann sagte der Typ, ich soll ins Auto einsteigen, weil meine Mutter mich jetzt gleich zu Hause braucht.
    Ich dachte mir, dass zu Hause irgendwas nicht stimmt, und wäre schon fast eingestiegen. Aber irgendwie glaubte ich dann doch nicht, dass es Jake ist. Der Kerl hat wohl gemerkt, dass ich das dachte, weil er mich plötzlich am Arm packte. Ich zog ihn weg. Er riss dann die Tür richtig fest zu – ich hatte Angst, dass er meinen Ärmel eingeklemmt hatte und ich jetzt mitgeschleift würde. Aber das war nicht so. Er fuhr richtig schnell davon und ließ mich da stehen. Ich fing

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