Die Schreckenskammer
zu erflehen. Sie sagte, mehrere Leute hätten ihre Söhne in den folgenden Tagen gesehen, sie seien aber nie nach Hause zurückgekehrt, und als sie und ihr Gatte dorthin gingen, um Nachforschungen anzustellen, erfuhren sie überhaupt nichts.
Unser Abendmahl stand unberührt vor uns. Eine schöne Scheibe Lamm, nach sechs Wochen der Fleischlosigkeit eigentlich sehnlichst erhofft, lag nun kalt auf dem Tablett. Keiner von uns hätte auch nur einen Bissen hinuntergebracht.
»Wurde keiner dieser Fälle je gelöst?«, fragte Seine Eminenz ernst.
»Nein. Keiner wurde je zu einem Abschluss gebracht.«
»Keine Überreste? Keine zurückgelassene Kleidung?«
»Nichts.«
Er lehnte sich auf seinem hochlehnigen Stuhl zurück, was mir die Sicht auf das wundervoll bestickte Kissen nahm, das ich sehr bewunderte. Dann legte er die Hände auf die Knie und sagte: »Das scheint mir unmöglich.«
»In der Tat. Oder zumindest sehr unwahrscheinlich.«
»Nun denn …«, sinnierte er, »wir werden dafür sorgen müssen, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich denke, es wäre wohl vernünftig, wenn ich mit meinen tieferen Nachforschungen in Machecoul beginne.«
»Ja, Eminenz.«
»In drei Tagen werden wir dorthin reisen«, fügte er entschlossen hinzu.
Das war eine zu lange Wartezeit. »Eminenz, wenn wir dies weiterhin verzögern, geht noch mehr verloren.«
»Guillemette, es gibt wichtige Dinge, die ich zuerst …«
»Kinder, Euer Eminenz – was könnte wichtiger sein als die Seelen der Kleinen.«
Er erbleichte vor Schuldbewusstsein. »Nun gut, dann müssen meine anderen Verpflichtungen wohl warten. Morgen früh dann.«
Ich nickte. Mein Einfluss war auf jeden Fall gesichert.
Wir versahen die Vespern, wie wir es immer tun, und dann entließ mich Jean de Malestroit. Ich ging in die Klosterstallungen, wo ich meine kleine Eselin friedlich an einer Strohgarbe knabbern sah. Ihr Unterkiefer bewegte sich unablässig von einer Seite zur anderen, und das gelbe Gras wurde immer kürzer, bis es schließlich ganz in ihrem zahnreichen Maul verschwand. Ich bückte mich, hob frische Halme auf und hielt sie ihr hin. Mit ihren abgenutzten Zähnen nahm sie sie behutsam aus meiner Hand und kaute sie, während ich ihr liebevoll den Hals kraulte.
»Du bist ein sehr verständnisvolles Tier, Mademoiselle«, flüsterte ich, als wäre sie ein kleines Kind. Sie schüttelte den Kopf, um eine lästige Fliege zu vertreiben, und besprühte mich dabei mit Speicheltröpfchen. Ich wischte mir mit dem Ärmel übers Gesicht.
»Und außerdem sehr überschwänglich«, fügte ich hinzu. »Aber mir macht es nichts. Du hörst mir ohne Widerspruch zu, wie es nur wenige zweibeinige Wesen tun. Und dies ist auch der Grund für meinen Besuch, meine kleine Freundin. Ich würde gern deine Meinung zu einer Sache hören, die mich sehr beschäftigt.«
Sie hob und senkte den Kopf, ein zustimmendes Nicken, fast so, als würde sie verstehen.
»Gut. Dann lass mich dich Folgendes fragen: Wie kommt es, dass diese Kinder ausschließlich in Gilles de Rais’ Reich verschwinden? Und wie kommt es, dass offenbar immer seine Bediensteten die Hand im Spiel haben?«
Sie wurde plötzlich unruhig und schrie.
»Genauso geht es mir auch«, sagte ich. Ich drückte meine Stirn an die ihre und stand einfach nur da, während mir eine Träne über die Wange lief.
10
Es war einer dieser Augenblicke, in denen ich mir wünschte, ich hätte in der High School besser aufgepasst. Damals hielten wir Statistik für reine Zeitverschwendung, für eins der Dinge, die wir nie mehr brauchen würden außer vielleicht bei einem Trip nach Las Vegas, dem Sündenpfuhl, den Minnesotaner nie betreten würden, weil jeder wusste, dass es für einen nicht bekömmlich war.
Wie standen die statistischen Chancen, dass in einer Stadt wie Los Angeles, wo Weiße de facto eine Minderheit waren, dreizehn vermisste Jungen alle weiß, blond, helläugig und engelhaft waren?
»Na ja, ich schätze, wir haben es da wohl mit einer Anomalie zu tun«, sagte Fred Vuska.
Ich schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich glaube, womit wir es hier zu tun haben, Fred, ist ein Serienentführer.«
Das kurze, von meiner Erklärung ausgelöste Schweigen war beladen mit politischen Überlegungen und Sorgen über finanzielle Implikationen. Da Einsatzkommandos für die Transportsicherheit einen Großteil des Überstundenbudgets auffraßen und Personalengpässe durch einen Einstellungsstopp noch verstärkt wurden, steckte Fred in
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