Die Schrift in Flammen
breiter, beleibter älterer Herr mit einem riesigen ergrauten Schnurrbart und auffallend hellblauen Augen. Das Kinn hatte er glattrasiert, obwohl sein Bartwuchs stark sein musste, denn weiße Härchen bedeckten seine Backenknochen über den glatten Wangen. Er gleicht Papa Milóth, dachte Bálint, bloß ist er von viel größerem Wuchs. Und er fand den unbekannten alten Herrn sympathisch.
Der Fremde hatte zwei Zeitungen, das Budapester Hírlap und die Wiener Reichspost , das Blatt aus Luegers Lager. Selber las er das Letztere. Bálint erbat sich das andere. Als er es dankend zurückgab, bot ihm der Mitreisende die Reichspost an: »Wünschen Sie sich vielleicht auch das noch? Es gibt darin einen Beitrag über die Zustände in Ungarn, er wird Sie vielleicht interessieren.« Und er zeigte auf den Leitartikel, während er die Zeitung überreichte.
Der Artikel behandelte die Krise der Monarchie, das Scheitern des Dualismus. Die Lage werde unhaltbar, wenn die Ungarn die Sicherheit des Gesamtreichs außer Acht ließen. Die ungarische Legislative, hieß es weiters, sei nicht demokratisch genug, sondern ein Scheinparlament, das lediglich Klasseninteressen vertrete und »nicht die Gesamtheit der Völker«. 16 Die Armee stelle eine gemeinsame Angelegenheit und Verpflichtung dar, und obwohl Österreich sich in innere ungarische Fragen weder einmische noch einmischen wolle, könne es die Sicherheit der Monarchie nicht unbeachtet lassen. Am Ende folgte eine etwas verhüllte Aufforderung an den Kaiser; die Rede war von den Pflichten des greisen Monarchen, der sich vor allen Dingen die Interessen der Gesamtheit vor Augen führen müsse.
»Interessant, nicht wahr?«, fragte der Alte, nachdem Bálint die Lektüre des Blattes beendet hatte. »So schreibt man in Wien, und darin ist viel Wahrheit.«
Abády erhob sich und stellte sich vor. Er reichte dem anderen die Hand. Der Mitreisende schien einen Augenblick zu zögern. Ein kaum wahrnehmbares, leicht spöttisches Lächeln zeichnete sich neben seinem dichten Schnurrbart ab, und er blickte Bálint erwartungsvoll an, nachdem er seinen Namen genannt hatte: »Dr. Aurel Timișan, ich war einer der Verteidiger beim Memorandum-Prozess.« Er glaubte offensichtlich, Abády werde nun seine Hand zurückziehen.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, antwortete Bálint und drückte ihm die Hand. »Soviel ich weiß, sind Sie jetzt Abgeordneter, nicht wahr, Herr Anwalt?«
»Ja«, sagte Timișan, »sonst würde ich nicht in der ersten Klasse reisen. Die ist nicht für unsereinen.«
Eine Unterhaltung setzte ein. Der Alte sprach sehr geistreich und mit vorzüglicher Kenntnis des Ungarischen; niemand hätte vermutet, dass er Rumäne war. Er kannte sich auch in der Weltpolitik gut aus. Er brachte die revolutionären Ereignisse in Russland zur Sprache, die Umwandlung, die im Fall der Proklamierung der russischen Duma zu erwarten war, und deren Auswirkung auf Europa. Er wusste wohl,dass Abády bis vor kurzem als Diplomat gedient hatte, vielleicht wählte er die Gegenstände deshalb so, oder vielleicht darum, weil er die Nationalitätenfrage als Thema vermeiden wollte. Bálint jedoch schnitt die Frage selber an. Er wollte sich kundig machen, einmal geradewegs hören, worin denn die als ungerecht empfundene Behandlung bestand. Er wollte so in einer ungezwungenen Unterhaltung Auskunft bekommen und nicht über Ansprachen oder politische Programme, die sich an die Öffentlichkeit richteten; ein unmittelbares Gespräch sollte dazu dienen. Timișan äußerte sich sehr vorsichtig, doch bestimmt. Er sprach über das Nationalitätengesetz sowie über dessen Mängel und ungenügende Umsetzung. Dann darüber, dass sie sich damit nicht begnügten und dass die Feindschaft zwischen Ungarn und Rumänen Unsinn sei, wo sie doch vielmehr, vom slawischen Meer umfangen, aufeinander angewiesen wären. Der Hass verhindere die Einigung. Grundloser Hass, der künstlich angefacht werde. »Und wer tut das? Wer sind sie, die größten Chauvinisten? Nicht die richtigen Ungarn, sondern allerlei Leute fremder Herkunft, Jenő Rákosi und seine Genossen, die größtenteils Juden sind.« Rákosi hasste er besonders. »Wer ist dieser Rákosi?«, sprach er mit Wut, die er kaum zu bezwingen vermochte. »Ein Zipser Deutscher … Kremser hat er geheißen, dann kaufte er sich für fünfzig Kreuzer einen ungarischen Namen, und jetzt gibt er allen Lektionen, was ein echter Ungar sei. Uns tauft er dabei ›Ungarn rumänischer Sprache‹.
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