Die Schrift in Flammen
sagte er, dem Gewohnheitsrecht, dass solche Botschaften dem Präsidium vom Ministerpräsidenten überreicht würden, und deshalb stelle er den Antrag, dass die Kammer den Umschlag nicht annimmt, sondern ihn ungeöffnet den beiden Offizieren zurückgibt. Dies war die Formel, die von ihm gewählte revolutionäre Taktik, auf die sich der Führungsrat tags zuvor geeinigt hatte. Auf diese Weise würde nichts geschehen; das Parlament war einberufen, jawohl, aber aufgelöst? Davon hatte offiziell niemand Kenntnis. – Die Lösung überraschte die Uneingeweihten ein wenig; Verwunderung herrschte während einiger Minuten. Doch das Rechtsempfinden, die Wertschätzung der juristischen Formeln waren damals in allen so stark, man maß ihnen solches Gewicht bei, dass im Saal nach kurzem Zögern ein Gemurmel der allgemeinen Zustimmung lautwurde.
Der Vorsitzende schlug nun eilends vor, am übernächsten Tag, dem 21. Februar, eine Sitzung abzuhalten. Jedermann wusste natürlich, dass es dazu niemals kommen würde, da doch feststand, dass es im Erdgeschoss bereits von Soldaten wimmelte; sie befanden sich schon auf der Treppe, um das ganze Parlamentsgebäude zu besetzen. Doch das spielte keine Rolle, der Antrag war ordnungsgemäß, die Rechtmäßigkeit verlangte diese Vorgehensweise. Bevor aber die Abgeordneten hätten zustimmen können, sprang Zsigmond Boros auf: »Hohes Haus! In den heutigen unheilschwangeren Zeiten, da gegen den Tempel der Nation …«
»Hören Sie auf! Beenden wir das Geschäft!«, rief man ihm zu. Boros ließ sich dadurch in seiner Marmorruhe nicht stören: »… die Wiener Kamarilla ein niederträchtiges Attentat plant, da stehen wir treuen Söhne des Vaterlands, möge uns auch Gefängnis, Schafott oder der Galgen drohen, alle in der Pflicht …«
In diesem Augenblick stürzte ein Beamter der parlamentarischen Verwaltung zur Tür herein. »Sie kommen! Sie sind schon im Korridor!«, kreischte er in den Saal.
»… unsere uralt-ehrwürdige Verfassung bis zu unserem letzten Blutstropfen zu verteidigen, sodass man nur über unsere Leichen, nur zum Preis unseres Todes …«
Die Rufe verschluckten seine weiteren Worte: »Hör auf! Mach ein Ende!« Der Vorsitzende schloss die Sitzung und hastete vom Podium hinunter. Alle drängten zum Ausgang, sie stießen sich, um möglichst schnell fortzukommen. Jetzt jedoch trat durch die untere Tür ein gedrungener Honvéd-Oberst ein. Die Leute im Gedränge in seiner Nähe stutzten und suchten kreuz und quer andere Fluchtwege. Oberst Fabritius bestieg indessen das Podium und las nur noch vor den Journalisten, die sich von den Tribünen herunter in den Saal ergossen hatten, das königliche Skript über die Auflösung der Kammer vor. Bei seinem letzten Wort zogen bewaffnete Infanteristen in den Sitzungssaal ein.
Die Soldaten standen in den Korridoren mancherorts bereits in Reih und Glied, anderswo wurden sie von den Offizieren erst jetzt versammelt. Alle gehörten dem Budapester Honvéd-Regiment an. Es war ein tragischer Anblick: Soldaten mit Bajonetten im Parlament! Mit den Gesichtern zu den Eingängen des Saals, bildeten sie vor den langen Fensterreihen eine dunkle Wand, sie schienen an diesem grauen, regnerischen Morgen selbst das Tageslicht auszusperren.
Bálint, der zu laufen sich schämte, verließ vielleicht als Letzter den Sitzungssaal. Er machte sich auf den Weg zur gewohnten Treppe, doch da stieß er auf Béla Varju, der laufend aus der gleichen Richtung zurückkam.
»Hier ist gesperrt! Sie lassen keinen durch!«, rief er schon von weitem. »Durch den Gesellschaftsraum hindurch könnte es vielleicht noch gehen!«, antwortete Abády, und sie nahmen diesen Weg. Sie huschten gerade noch durch, denn ein Hauptmann war schon dabei, seine Mannschaft vor der breiten Glastür aufzustellen. Bálint war flinker als sein schwerfällig schreitender Begleiter. Er empfand das Komische ihrer Lage und rief nach hinten: »Beeil dich, mein Freund, sonst werden wir unsere Mäntel im Wiener Zeughaus wiedersehen!«
Sein Zug fuhr um zwei Uhr, weshalb er im Casino ein frühes Mittagessen einnahm. Er hatte daselbst eine schlechte Stimmung vorgefunden. Hier und dort flüsterten einige Leute, verstummten aber, wenn sich ihnen jemand näherte. Bei Tisch fiel kaum ein Wort über die Ereignisse des Morgens. Man zuckte die Achseln. Nicht einmal Frédi Wuelffenstein berief sich auf sein rebellisches ungarisches Blut. Auf allen lastete das Bewusstsein, dass nun unvoraussehbare Dinge folgen
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