Die Schuld der Väter (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
den hinten im Boden seines Cadillac eingelassenen D-Ring gekettet hatte und nach New Orleans gefahren war, um den Flüchtigen bei den Kautionsadvokaten abzuliefern, für die er arbeitete.
Zerelda spürte Marvin Oates an einer Nebenstraße im alten Bordellviertel von New Iberia auf, wo er den auf einen Rollschuh montierten Koffer zur vorderen Veranda eines Holzhauses zerrte, in dem sich ein Geschäft befand, und im Schatten einer ausladenden Eiche einen Pappteller voller Reis, Bohnen und Würstchen aß. Einen halben Straßenzug weiter befand sich ein mit Kalkmörtel verputztes Crackhaus, das ebenfalls im Schatten einer Eiche stand. Der Hof lag voller Müll, die Fensterscheiben waren zerbrochen, und die zerschlitzten und verrosteten Fliegengitter hingen aus den Rahmen. Ab und zu ging eine der weißen und schwarzen Crackhuren, die auf der Veranda vor dem Haus saßen, zu dem Laden, um sich Bier, Zigaretten oder etwas zu essen zu besorgen, aber Marvin blickte nicht von seinem Teller auf, wenn sie an ihm vorbeiliefen.
Zerelda fuhr mit ihrem perlweißen Mustang-Kabrio auf den mit Austernschalen bestreuten Parkplatz und blieb mit laufendem Motor stehen.
»Schmeiß deinen Koffer hinten rein, Süßer, und fahr ein Stück mit«, sagte sie.
»Wohin soll’s gehen?«, fragte Marvin.
Sie ließ den Blick über eine Schürfwunde neben seinem Auge schweifen, eine Schramme an seinem Kinn. Sie zog eine Miene, die mitleidig und wütend zugleich wirkte.
»Jemand den Kopf zurechtrücken, der sich für einen starken Macker hält, weil er jemand vertrimmen kann, der halb so groß ist wie er«, erwiderte sie. »Nun steig schon ein, Marvin.«
»Ich will mich mit niemand anlegen, Miss Zerelda«, sagte Marvin.
Sie öffnete die Autotür und wollte aussteigen.
»Ich komm ja schon«, sagte er.
Es dämmerte schon fast, als Zerelda den Mississippi überquerte, die Canal Street hinabfuhr, ins French Quarter abbog, an dem Haus an der St. Ann Street vorbeirollte, in dem sich Cletes Büro und sein im ersten Stock gelegenes Apartment befanden, und um die Ecke parkte. Die Tür war verschlossen, aber in der Fensterecke klemmte eine Nachricht für eine berühmt-berüchtigte Nervensäge der Unterwelt von New Orleans. »Lieber No Duh, ich bin drüben bei Nig und Willie – Clete«, stand dort.
Die Kautionskanzlei von Wee Willie Bimstine und Nig Rosewater befand sich ganz in der Nähe der Basin Street, knapp innerhalb der fließenden Grenzen des French Quarter, nicht weit vom St. Louis Cemetery und dem Louis Armstrong Park entfernt. Zerelda fuhr an den Bordstein und hielt neben einer Reihe überquellender Mülltonnen. Ein Stück weiter, auf der anderen Seite der Basin Street, sah sie die alten Ziegelbauten und die grünen Holzveranden des Iberville Project, einer Sozialsiedlung, in der es von Cracksüchtigen, Schlägerbanden und halbwüchsigen Prostituierten nur so wimmelte, die auf dem angrenzenden Friedhof Touristen überfielen, Freier ausraubten und sie gelegentlich auch aus purer Bosheit umbrachten. Deshalb hatte die Stadtverwaltung sogar Zementbarrikaden an einigen Straßen angebracht, die nach Iberville führten, damit die Touristen nicht aus Versehen in die Siedlung fuhren.
Aber Marvin Oates’ Blick war auf das Fenster der Kautionskanzlei gerichtet, wo Clete mit einem Mann, der ihm am Schreibtisch gegenüber saß, Karten spielte. Einem dürren, elegant gekleideten Mann mit tiefbraunem Gesicht, der einen rotbraunen Fedora mit einer grauen Feder im Hutband trug und einen Schnurrbart hatte, der aussah, als wäre er mit Fettstift auf seine Oberlippe gemalt.
Marvins Gesicht war vom Fahrtwind gerötet, und jetzt stand er heftig schwitzend in der Abenddämmerung und zupfte mit den Fingern an seinem trockenen Mund.
»Ich warte hier draußen«, sagte er.
»Niemand wird dir was zuleide tun«, sagte Zerelda und stieg aus dem Auto.
»Deswegen bleib ich auch draußen.«
Sie ging zur Beifahrerseite des Kabrios. »Kämm dir die Haare, Süßer. Danach führe ich dich zum Essen aus. Du brauchst keine Angst zu haben. Nicht, solange ich bei dir bin«, sagte sie und strich seine Haare zurück.
Er schaute sie an wie ein Rehkitz.
Dann ging sie durch die Tür der Kautionskanzlei und ließ ihre schwere Handtasche, deren Stoffriemen um ihren Unterarm geschlungen war, hin und her schwingen.
»Zerelda, was steht an? So ein Zufall. Ich wollte sowieso, dass sich No Duh mal unseren guten Marvin, den Voyeur, anschaut und feststellt, ob er ihm schon mal im
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