Die Schuld wird nie vergehen
das blaue Wasser schimmern. Sie schlenderte zu einem Landungssteg, dessen Holz grau verwittert war. Ein paar Boote schaukelten an ihren Ankerketten, und einige Frühaufsteher angelten bereits in der Nähe des anderen Ufers. Ami betrachtete die grünen Hügel, die sich hinter dem kristallklaren Wasser erhoben. Ein Falke glitt unter schneeweißen Federwolken dahin. Diese idyllische Szenerie ließ die Gewalttat, die hier passiert war, noch unwirklicher erscheinen.
Die Innenstadt von Lost Lake bestand aus drei Parallelstraßen, der Main, der Elm und der Shasta Street. Während Ami die Main Street runterfuhr, fielen ihr Antiquitätengeschäfte und Kunstgalerien und drei Cafes auf. Das Büro des Sheriffs lag in einem einstöckigen, braunen Betonklotz am Ende der Main Street. Ami parkte und ließ einen silbrig glänzenden Tanklastzug und einen Pick-up mit einer Ladung Holz vorbei, bevor sie die Straße überquerte.
Im Wartebereich der Wache standen ein paar Stühle, die mit ausgebleichtem Kunstleder bezogen waren. Ein niedriges Metallgitter trennte diese Zone von einem großen Raum mit Metall Schreibtischen, an denen uniformierte Deputys saßen. Die Empfangsdame, eine große, freundliche Frau in einem weiten bunten Kleid, saß an dem Tisch direkt neben dem Gitter und telefonierte. Ami entnahm dem einseitigen Gespräch, dass offenbar ein Bär die Garage eines Anwohners verwüstet hatte. Schließlich legte die Frau den Hörer auf und lächelte Ami strahlend an.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe einen Termin beim Sheriff«
Einige Minuten später trat ein großer, breitschultriger Mann mit kurzem, graumeliertem Haar und haselnussbraunen Augen aus einem Korridor, der in den hinteren Teil der Wache führte. Er trug eine braune Uniform und musste etwa Ende Vierzig sein.
»Mrs. Vergano?« Er hielt ihr die Pforte in dem Gitter auf, das den Zugang zu der Wache blockierte.
»Ja.« Sie reichte ihm die Hand.
»Aaron Harney«, stellte er sich vor und schüttelte ihr die Hand. »Kommen Sie doch bitte mit in mein Büro.«
Ami folgte Harney in sein holzgetäfeltes Büro im hinteren Teil der Wache. Die Wände waren mit gerahmten Gedenktafeln, Diplomen und Fotos von Harney neben dem Gouverneur und anderen Berühmtheiten bepflastert. Den Mittelpunkt bildete ein ausgestopfter Elchschädel. Ein gläserner Bücherschrank mit Gesetzestexten stand an einer Wand. Auf dem Schrank befanden sich Bowling- und Softballtrophäen, die das Büro des Sheriffs gewonnen hatte. Auf Harneys zerkratztem Schreibtisch stand außerdem ein Foto, das vermutlich seine Frau und seine fünf Kinder zeigte.
Harney bot Ami einen Platz an und setzte sich dann auf seinen Schreibtischstuhl.
»Sie haben mir gestern Abend am Telefon nur gesagt, dass Sie gern über den Mord an dem Kongressabgeordneten Glass mit mir reden wollten. Den Grund dafür haben Sie aber im Unklaren gelassen«, begann Harney das Gespräch.
»Ich arbeite an einem Fall, der vielleicht etwas damit zu tun hat«, erwiderte Ami. »Ich würde gern mehr über den Glass-Fall wissen oder vielleicht sogar die alten Akten einsehen, falls das möglich ist.«
»Das ist es durchaus, falls Sie mir sagen können, warum Sie ein Mord interessiert, der bereits zweiundzwanzig Jahre zurückliegt.«
»Das ist ein wenig heikel, Sheriff Sie wissen ja, dass das Gesetz mir verbietet, das Vertrauen eines Klienten zu missbrauchen.«
Harney nickte. »Und Sie wissen, dass es keine Einschränkungen bei der Verfolgung eines Mordverdächtigen gibt.«
»Gestern Abend habe ich meinen Sohn bei einer Nachbarin gelassen und bin hierher geflogen. Ich muss heute wieder zurück, also habe ich keine Zeit, vor Gericht zu gehen, um Einsicht in die Akten zu beantragen. Wenn Sie nicht wollen, dass ich sie sehe, haben Sie schon gewonnen.«
Harney gefiel die Aufrichtigkeit seiner Besucherin. Die meisten Anwälte hätten ihm mit der ganzen Wucht des Gesetzes gedroht.
»Wussten Sie, dass ich in der Nacht, als der Kongressabgeordnete ermordet wurde, der erste Beamte am Tatort war?«
Amis Überraschung war Antwort genug.
»Ich bin Sheriff, seit Earl Basehart sich zur Ruhe gesetzt hat. Bis dahin war ich lange Jahre Deputy. Wenn ich meine Erfahrungen als Militärpolizist bei der Army dazu zähle, komme ich auf etwa fünfundzwanzig Jahre Kampf gegen das Verbrechen. Während dieser Zeit habe ich einiges gesehen, aber das hier war mit Abstand das Schlimmste. Den Anblick der Leiche des Abgeordneten kann ich bis heute nicht vergessen.
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