Die Schuldlosen (German Edition)
starke Schmerzen, da bin ich sicher. Aber er behauptet, das bilde ich mir bloß ein.»
«Lass mich mal mit ihm reden.»
«Das geht nicht. Er hat sich oben hingelegt. Hier unten war es ihm zu laut. Vielleicht schläft er. Ich geh gleich mal rauf. Aber erst mach ich ihm die Suppe heiß, damit er was in den Leib bekommt.»
Silvie erfuhr nur noch, dass Lothar ihren Sohn am vergangenen Abend schon um halb sieben abgeliefert hatte. Halb sieben! Da wäre wahrhaftig noch mehr als genug Zeit für einen Besuch im Krankenhaus gewesen. Warum Lothar nicht gekommen war, konnte Franziska ihr beim besten Willen nicht verraten, hatte auch keinen Nerv, darüber zu spekulieren.
«Frag ihn doch selbst, wenn er heute Abend kommt. Vielleicht ist er gestern von uns aus noch rüber zu seiner Mutter gegangen, und die hat ihn stundenlang festgehalten mit ihren Wehwehchen. Du weißt doch, wie sie ist. Ich hab nicht darauf geachtet und muss mich jetzt wirklich um Opa kümmern, der ist den ganzen Vormittag zu kurz gekommen.»
Um ihre Hollandpläne nicht zu gefährden, verlor Heike Jentsch kein Wort über Alex und ihre Furcht vor seiner Rache, als ihre Schwägerin mittags zur gewohnten Zeit die zweite Lieferung brachte. Und als kurz nach vier das letzte Plunderhörnchen verkauft war, wartete sie immer noch auf die Konfrontation.
Sie verschloss die Eingangstür, erlaubte sich ein kurzes, verhaltenes Aufatmen und machte dann sauber. Eine gute Stunde später trat sie durch die Hintertür ins Freie, sperrte ab und ging eilig die paar Schritte zu ihrem Honda, während sie weiter Ausschau nach ihm hielt.
Es gab bereits große Lücken zwischen den Fahrzeugen auf dem weitläufigen Parkplatz. Trotzdem war noch ausreichend Deckung vorhanden für einen Mann, der es darauf anlegte, erst in letzter Sekunde gesehen zu werden. Aber es schoss niemand wie der Teufel aus der Kiste hinter einem Auto hervor und auf sie zu.
Wahrscheinlich war ihm der Platz zu öffentlich. Er hätte sie zwar zurück ins Blockhaus drängen können. Doch durch die Vorderfront war der gesamte Verkaufsraum samt Kühltheke gut einsehbar und, auch wenn geschlossen war, noch schwach beleuchtet. Und draußen herrschte bis in den späten Abend hinein ein ständiges Kommen und Gehen von S-Bahn-Nutzern, die etwas vom Geschehen hätten sehen oder hören können.
Er hätte sie natürlich auch ins Auto schieben und irgendwohin verfrachten können, wo ihn niemand störte. Zum Beispiel in seine Bruchbude am Ende der Breitegasse. Da gab es nicht mal unmittelbare Nachbarn. Und vor morgen früh würde sie kein Mensch vermissen. Aber wenn ihr Bruder sich um halb fünf wunderte, weil sie die Brötchen nicht abholte, wenn Wolfgang den Stein ins Rollen brachte und die Polizeiwache über ihr Verschwinden informierte, würde jeder Polizist, der sie und ihre Vorgeschichte kannte, zuerst in der Villa Schopf nach ihr suchen, da war sie sicher. Und sie nahm an, dass auch Alex das sehr genau wusste.
Wenn man es richtig bedachte, war ihre Wohnung entschieden besser geeignet, um sie für die sechs Jahre hinter Gittern büßen zu lassen. Und wenn er dabei so geschickt vorging wie bei Janice Heckler, wenn er auch bei ihr keine Spuren hinterließ, würde ihr kleines Problem höchstwahrscheinlich auch noch für seine Unschuld sprechen. Die Polizei nähme vermutlich an, der Verursacher ihrer Schwangerschaft sei der Täter.
Ob Alex es zuerst bei ihrer alten Adresse probiert und dort umsonst auf sie gewartet hatte? Kurz nach dem Prozess war sie umgezogen, hatte in einem der drei Hochhäuser an der Ludwig-Uhland-Straße im Westen von Grevingen – Bausünden aus den frühen siebziger Jahren – eine kleine Wohnung gemietet. Doch das herauszufinden war bestimmt eine Kleinigkeit für einen Mann, der gewillt war, sie ihre Aussage bereuen zu lassen. «Das wird dir noch leidtun!»
Heike war überzeugt, dass er dazu immer noch entschlossen war, und zwar so fest, dass ihn nichts und niemand davon abbringen konnte.
Er hätte sich letzten Freitag nur an ihre Fersen heften müssen, um in Erfahrung zu bringen, wo sie jetzt wohnte. Ob ihm ein Auto zur Verfügung stand, hatte Lothar ihr nicht sagen können. Doch davon ging sie aus. Alex war immer verrückt nach Autos gewesen. Wahrscheinlich hatte er in Köln einen Mietwagen genommen.
Und wie sollte man bei schlechten Sichtverhältnissen im Stadtverkehr feststellen, dass man verfolgt wurde? Außerdem hätte er ja nicht die ganze Strecke hinter ihr herfahren müssen,
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