Die Schule der Nacht
wieder besucht. Der angenehmste Mensch, den man sich vorstellen kann. Wann immer Sie das Bedürfnis haben zu reden – ich bin jederzeit für Sie da.«
Er griff nach ihrer Hand, drückte sie sanft, dann kehrte er zu ihrer Mutter zurück und deutete auf die Treppe.
April blickte ihm stirnrunzelnd hinterher. Was sollten das denn für Gespräche gewesen sein? Sie waren doch erst vor zwei Wochen nach Highgate gezogen, und ihr Vater war nie besonders religiös gewesen. Hatten seine Besuche beim Pfarrer womöglich etwas mit seinen Nachforschungen zu tun gehabt? Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, ihre Gedanken auf das Hier und Jetzt zu lenken, als die Träger den dunklen Holzsarg auf ihre Schultern hoben und gemessenen Schrittes dem Pfarrer den Hügel zur Grabstätte hinauf folgten. »Christus ist auferstanden von den Toten, hat den Tod durch den Tod zertreten und denen in den Gräbern das Leben geschenkt…«, psalmodierte er das Christos Anesti .
April konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und dankte Fiona stumm dafür, sie dazu überredet zu haben, Ballerinas statt Schuhe mit Absätzen anzuziehen. Die Augen fest auf den Boden geheftet, versuchte sie, nicht daran zu denken, dass sie ihrem Vater gleich zum letzten Mal Lebewohl würde sagen müssen.
Während sie langsam den Hügel hinaufschritten, ließ sie den Blick über die ihr mittlerweile seltsam vertrauten Gräber und Statuen wandern, Engel und Tiere und deprimierende Christusdarstellungen. Noch ein paar Tage zuvor hatte sie tröstlichen Zuspruch in ihnen gefunden, heute strahlten sie nur Verzweiflung und Leere aus. Doch plötzlich sah sie etwas, das sie wie angewurzelt stehen bleiben ließ. Sie hielt sich erschrocken an Fiona fest.
»Was ist denn?«, flüsterte ihre Freundin.
»Nichts«, flüsterte April zurück.
Aber das war gelogen. Etwa zwanzig Meter vom Weg entfernt, von den Büschen halb verborgen, hatte sie den Mann aus dem kleinen weißen Pförtnerhäuschen stehen sehen. Den Mann, der so plötzlich verschwunden war und von dem die Friedhofsführerin behauptet hatte, sie hätte ihn sich nur eingebildet. Sie dachte kurz daran, Fiona auf ihn aufmerksam zu machen, um zu überprüfen, ob sie ihn ebenfalls sah, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Ich bilde mir keine Sachen ein, dachte sie verbissen. Mir geht es gut. Als sie erneut zu ihm hinüberblickte, war er nicht mehr da.
»Ich kümmere mich um die Gräber«, hatte er gesagt. April nahm an, dass er weitergegangen war, um seine Arbeit zu tun, hatte aber auch keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn in diesem Moment kam beinahe drohend die letzte Ruhestätte ihres Vaters in Sicht. Die Gruft der Hamiltons glich einem griechischen Säulentempel mit schmiedeeisernen Flügeltüren und einem Giebeldach. Zu Aprils Überraschung war über der Tür jedoch nicht der Name »Hamilton« eingemeißelt, sondern »Vladescu«. Obwohl ihr Großvater ihr erzählt hatte, dass er seinen Nachnamen geändert hatte, war der Anblick ein kleiner Schock. Ist das mein Name?, dachte sie unglücklich. Ist das alles, was bleibt, jetzt da mein Vater tot ist? Der Nachname von jemand anders?
Die Tür war bereits geöffnet, und neben dem Eingang stand ein Tisch, über den ein dunkelroter Samtstoff gebreitet war, während der kleine Treppenaufgang von großen Blumengebinden gesäumt war. Behutsam stellten die Sargträger den Sarg ab, und der Pfarrer begann mit dem Bestattungsritual, das im Laufe der letzten zweihundert Jahre auf diesem Hügel immer und immer wieder vollzogen worden war.
»Und Jesus sagt: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.«
April liefen die Tränen über die Wangen.
»In deine Hände, oh Herr, befehlen wir den Geist deines treuen Dieners William«, fuhr der Pfarrer fort. »Bewahre ihn nach deiner Gnade, beschirme ihn unter dem Schatten deiner Flügel. Gepriesen sei, der da war und der da ist und der da kommt. Lob und Preis sei ihm in Ewigkeit.«
Die Trauernden murmelten ein »Amen«, dann trat Aprils Mutter von ihrem Vater gestützt nach vorn und legte schluchzend eine weiße Rose auf den Sarg, während der Pfarrer das Kreuzzeichen machte und aus dem Buch Hiob zitierte: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Mitten im Leben sind wir im
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