Die Schule der Nacht
Auto angefahren worden und hatte sich dann auf den Friedhof geschleppt? Oder hatte ein anderes Tier ihn angefallen? Warum war das Tor offen gewesen? Sie hätte schwören können, dass es am Morgen, als sie daran vorbeigegangen war, noch zugekettet gewesen war. Ihre Gedanken überschlugen sich, ohne dass sie Antworten auf ihre Fragen fand, vor allem nicht auf die, die sie am meisten beschäftigte: Was hatte Gabriel auf dem Friedhof zu suchen gehabt, und warum hatte er sie so grob auf die Straße gezerrt? Hatte er sie vor irgendetwas retten wollen? Und welcher Teufel hatte sie überhaupt geritten, sich im Dunkeln in einer Gegend herumzutreiben, in der sie sich kaum auskannte, und dann auch noch auf einen Friedhof zu gehen – war sie völlig verrückt geworden? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und musste zugeben, dass ihre Eltern mit ihrer Sorge ausnahmsweise einmal recht gehabt hatten. Eilig trocknete sie sich ab und zog sich an, dann griff sie entschlossen nach ihrem Handy und rief Fiona an.
»Hey! Ich bin’s noch mal.«
Einen kurzen Moment lang herrschte überraschtes Schweigen in der Leitung. »Was ist denn los?«, fragte Fiona schließlich besorgt. »Du klingst total aufgelöst.«
»Ich hab vorhin einen kleinen Spaziergang durch Highgate gemacht, und dabei ist mir was total Seltsames passiert…«
»Wirf deinen Rechner an, und lass uns über Skype weiterreden«, schlug Fiona vor. »Ich hab sowieso Sehnsucht nach deiner hübschen Fratze.«
Fiona war schon immer ein kleines Computergenie gewesen – sie hatte bereits über WLAN im Netz gesurft, als die meisten anderen Leute sich noch über ein Modem eingewählt hatten –, und als April ihr von ihrem Umzug nach London erzählt hatte, hatte Fiona kurz darauf mit einer als Geschenk verpackten Webcam vor ihrer Tür gestanden. Unglaublich süß.
Während April ihren Laptop anschaltete und darauf wartete, dass er hochfuhr, hatte sie Zeit, noch einmal über das nachzudenken, was auf der Swain’s Lane passiert war: im Grunde genommen nicht viel. Sie hatte ein verletztes Tier gesehen und war von einem Jungen, den sie nur vom Sehen kannte, angebrüllt und vom Friedhof gezerrt worden. Endlich erschien Fionas Gesicht auf dem Bildschirm. Es war leicht verschwommen und verpixelt, trotzdem kamen April bei ihrem Anblick vor Freude und Erleichterung beinahe die Tränen.
»Also«, sagte Fiona streng, »und jetzt erzählst du mir haarklein, was passiert ist, und lässt nichts aus – ich hab dich genau im Blick und merke, wenn du mir was verschweigst.«
»Okay… ich bin eine Straße entlanggegangen und hab plötzlich ein merkwürdiges Geräusch gehört«, begann April zögernd. »Es kam vom Friedhof, also bin ich reingegangen, um nachzusehen, und… und da lag ein Fuchs am Boden, der schwer verletzt war und gewinselt hat.«
Fiona wartete stirnrunzelnd ab, ob noch etwas kommen würde, und sagte dann: »Das ist alles?«
»Dann… dann bin ich plötzlich nach hinten umgefallen«, erzählte April, weil ihr klar war, wie absurd es sich für ihre Freundin anhören müsste, wenn sie ihr sagen würde, sie hätte das Gefühl gehabt, in die Luft emporgerissen worden zu sein. »Und dann stand auf einmal ein Typ vor mir und hat gebrüllt, dass ich abhauen soll.«
»Also ich wäre wahrscheinlich auch abgehauen, wenn ich auf einem Friedhof einen halbtoten Fuchs gesehen hätte.« Fiona schüttelte sich. »Echt gruselig! Aber wer war der Typ? Und warum hat er dich angebrüllt?«
»Keine Ahnung, aber… Ach, wahrscheinlich wollte er mich bloß erschrecken«, sagte April plötzlich verunsichert. »Anscheinend hat mich die Sache mit dem Mord an Alix doch mehr mitgenommen, als ich dachte. Es ist ja praktisch direkt hier um die Ecke passiert.«
»Kann schon sein«, sagte Fiona wenig überzeugt. »Aber du solltest dir davon keine Angst machen lassen, Süße. Ich hab die Nachrichten über den Mord den ganzen Tag im Internet verfolgt. Die Polizei geht davon aus, dass der Täter entweder ein durchgeknallter Fan war oder jemand aus seinem privaten Umfeld. Was natürlich nicht heißt, dass die ganze Sache nicht furchtbar ist. Ich meine, so ein grausamer Mord passiert schließlich nicht jeden Tag. Oh Mann, ich bin dir keine besonders große Hilfe, oder?«
April lachte und spürte, wie die Anspannung ein bisschen von ihr abfiel.
»Doch, das bist du«, versicherte sie ihr. »Und ich freue mich wahnsinnig, dich zu sehen.« Sie musterte das Gesicht ihrer Freundin forschend. »Wie
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