Die Schule der Nacht
wusste, als er sagte.
»Wer soll sich denn Verdächtiges in der Swain’s Lane herumtreiben?«, hakte sie noch einmal nach. »Meinst du vielleicht irgendwelche kriminellen Jugendlichen von einer anderen Schule?«
»Nein, nein, auf keinen Fall. Hier gibt es doch nur die Ravenwood School und die Highgate School, und die sind für messerschwingende Halbwüchsige definitiv zu nobel, Liebes.«
»Aber aus irgendeinem Grund wirst du doch gefragt haben.«
»Ich hab mich in letzter Zeit wahrscheinlich einfach ein bisschen zu viel mit Wegelagerern und Straßenräubern beschäftigt«, sagte er und klopfte auf eines der beiden Bücher, die auf dem Tisch lagen. April reckte den Hals, um den Titel lesen zu können: »Die dunkle Seite des Viktorianischen Zeitalters«. Ihr Vater zuckte mit den Achseln. »Recherche für mein neues Buch. In der Viktorianischen Epoche wimmelte es in London vor Gaunern und Mördern, die sich für einen Schluck Gin gegenseitig die Kehle aufschlitzten. Aber vergiss nicht…«, betonte er und hob den Zeigefinger, als er Aprils bestürzten Gesichtsausdruck bemerkte, »…dass das hundertfünfzig Jahre her ist. Damals gab es noch keinen nennenswerten Polizeiapparat, die Menschen waren unvorstellbar arm, und London war viel kleiner. Die Stadtgrenzen umfassten gerade mal die Innenstadt und Covent Garden. Alles, was dahinter lag, war tiefste Provinz.«
»Sogar Highgate?«
»Ja und nein. Einerseits war Highgate ein eigenständiges Dorf, das vor vierhundert Jahren rings um das Gebäude errichtet wurde, in dem heute deine Schule untergebracht ist, andererseits beschloss man, den Friedhof hier anzulegen, weil es genügend Land gab und die Friedhöfe in London aus allen Nähten platzten und allmählich das Grundwasser verseuchten. Genau das ist auch das Thema meines neuen Buchs.«
Abermals lief April ein Schauer über den Rücken. »Es handelt von Friedhöfen?«
Ihr Vater stand auf und griff wieder nach seinen Büchern.
Er weicht mir aus, dachte April. Was verschweigt er mir?
»Auch, ja. Aber hauptsächlich von Krankheiten – die Pest, Massengräber, Seuchen, die sich über das Abwasser verbreiteten, und dergleichen«, murmelte er zerstreut.
»Sag bloß, diesmal geht es nicht um Monster?«, neckte sie ihn.
»Nein, diesmal geht es nicht um Monster, Schatz.« Er lachte, aber als er sie jetzt wieder ansah, war sein Blick ernst. »Es gibt keine Monster.«
Sechstes Kapitel
A pril hatte einmal eine Phase gehabt, in der sie geradezu süchtig nach Promimagazinen gewesen war. Sie hatte sich stundenlang Bilder von Filmpremieren und anderen Red-Carpet-Events angesehen, sämtlichen Klatsch über Stars und Sternchen gierig in sich aufgesogen und das Gelesene anschließend eingehend mit ihren Freundinnen erörtert, als würde sie die Schauspielerinnen und Popstars alle persönlich kennen. Sie hatte auch die Ratgeberkolumnen und Horoskope gelesen und es teilweise sogar ganz hilfreich gefunden, was darin zu den Themen Jungs, Prüfungsangst oder »Wie finde ich heraus, ob ich gut küssen kann« geschrieben wurde. Aber als sie jetzt auf dem Bett lag und in einer Zeitschrift blätterte, stellte sie fest, dass der Skandal um eine bekannte Schauspielerin, die in einem heruntergekommenen Gothic-Club in Soho dabei beobachtet wurde, wie sie sowohl mit Frauen als auch mit Typen herumgeknutscht hatte, sie völlig kaltließ. Sie warf das Magazin auf den Boden, ließ sich ins Kopfkissen sinken und starrte an die Decke. Die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch zeigte an, dass es schon nach Mitternacht war, aber April war so unruhig und angespannt, dass sie einfach nicht einschlafen konnte. Ihre Gedanken rotierten in einer Endlosschleife. Kein Wunder, es war ja auch ein ziemlich aufregender Tag gewesen. So ein erster Schultag allein war schon traumatisch genug, aber das, was sie hinterher erlebt hatte – was auch immer es zu bedeuten hatte –, hätte jedem Menschen den Schlaf geraubt. Ohne nachzudenken griff sie nach ihrem Handy, legte es dann aber gleich wieder auf den Nachttisch zurück. Wen wollte sie so spät noch anrufen? Sie könnte ins Internet gehen, aber was brachte ihr das? Alle ihre Freundinnen aus Edinburgh schliefen schon oder – noch schlimmer – waren aus und hatten Spaß. Sie drehte sich auf die Seite und schaute aus dem Fenster. Der Himmel schimmerte dunkelviolett, und zwischen den Regenwolken lugte der Mond hervor. April dachte daran, wie ihr Vater früher, als sie noch klein gewesen war, manchmal zum Nachthimmel
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