Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Schule der Nacht

Die Schule der Nacht

Titel: Die Schule der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Mia
Vom Netzwerk:
brauchte, sie benötigte eher etwas, das sie zum Gähnen bringen würde. Ihr Blick fiel auf ihre Schultasche, die an einem der Küchenstühle hing. Sie klappte sie auf und kramte darin nach dem Buch von John Wyndham.
    Science-Fiction – das perfekte Schlafmittel, dachte sie mit einem ironischen Lächeln. »Random Quest«, die Kurzgeschichte, die Mr Sheldon ihnen als Hausaufgabe zu lesen aufgegeben hatte, handelte von einem Mann namens Colin, der nach einem Laborunfall in einem Paralleluniversum aufwacht, in dem der Zweite Weltkrieg nie stattgefunden hatte. Viel wichtiger aber war, dass seine verstorbene Frau darin noch lebte und mit jemand anderem verheiratet war. Er selbst hatte auch eine neue Ehefrau, die… Oh Gott, wen interessiert so was?! April verdrehte die Augen, warf das Buch auf den Tisch und griff nach »Die dunklen Seiten des Viktorianischen Zeitalters«, das ihr Vater nach dem Abendessen dort liegen gelassen hatte. Na also. Das ist doch schon viel besser , dachte sie, als sie darin blätterte und von reichen Damen der besten Gesellschaft, die ihre Gatten vergifteten, und sich bekriegenden Taschendiebbanden las. Beim Umblättern flatterte plötzlich etwas zu Boden. April bückte sich danach und musste lächeln, als sie sah, dass es ein passbildgroßes Foto von ihr als Erstklässlerin war – eine niedliche Sechsjährige mit langen, dichten Haaren und einer Zahnlücke. Ihr Vater benutzte es wohl als Lesezeichen, und obwohl es ihr irgendwie peinlich war, dass ihr Vater sie offensichtlich immer noch als kleines Mädchen sah, freute sie sich andererseits, dass er das Foto aufbewahrt hatte. Sie wollte es gerade wieder zurücklegen, als ihr auf der Seite, in der es gesteckt hatte, ein paar Zeilen ins Auge fielen.
    Am 16. Oktober 1888 traf eine denkwürdige Nachricht ein. Ihr lag das Stück einer Niere bei, die mutmaßlich von einem der jüngsten Opfer stammte, und dazu die Versicherung: »Das andere Stück habe ich gebraten und verspeist, und es mundete wirklich ganz vorzüglich.«
    April schüttelte sich angewidert. Um wen geht es da? Um den Großvater von Hannibal Lecter? Als sie weiterlas, stellte sie fest, dass das Kapitel von verschiedenen Persönlichkeiten aus dem Viktorianischen Zeitalter handelte, die sich alle durch ihr »abweichendes Sexualverhalten« ausgezeichnet hatten – der berühmteste unter ihnen war Jack the Ripper, der – wie man annahm – Autor der Nachricht bezüglich des Wohlgeschmacks der Niere gewesen war. Von einem morbiden Interesse an den grausigen Verbrechen angetrieben, las sie weiter. Dem Buch zufolge hatte Jack the Ripper im Jahr 1888 sein Unwesen im Londoner East End getrieben, was eigentlich noch gar nicht so lange her war. April dachte daran, was ihr Vater gesagt hatte, und wusste plötzlich, was sie die ganze Zeit irritiert hatte: Er hatte ihr erzählt, dass sein neues Buch etwas mit Highgate zu tun hatte und dass Silvia sie erst recht nicht mehr vor die Tür lassen würde, wenn sie wüsste, woran er arbeitete. Aber noch nicht einmal ihre Mutter würde auf die absurde Idee kommen, sie ins Haus zu sperren, nur weil Jack the Ripper vor über hundert Jahren hier seine Morde begangen hatte. Wovon hatte ihr Vater also gesprochen? April schlich durch den Flur zu seinem Arbeitszimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie wusste zwar nicht, wonach sie eigentlich suchte, hoffte aber, auf irgendeinen Hinweis zu stoßen, der erklärte, warum ihr Vater ihr ausgewichen war, als sie ihn gefragt hatte, wovon sein neues Buch konkret handelte, und warum er betont hatte, dass Highgate einer der sichersten Stadtteile Londons sei. April hatte fast den Eindruck, als hätte er das nur gesagt, um sich selbst zu beruhigen. Sie setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ den Blick über die Stapel mit Unterlagen, die Bücher und Post-its wandern, die auf allen verfügbaren Oberflächen klebten und mit rätselhaften Kürzeln beschriftet waren: »Verbind. zu alt. Römern?«, » FG anrufen und nach ›Ott.txt‹ fragen« oder »23.11.88–14.02.93 – Bedeut.?« April stutzte: Das letzte Datum war ihr Geburtstag. Sie war am Valentinstag 1993 geboren worden. Welche andere Bedeutung sollte dieses Datum noch haben? Sie klappte vorsichtig den Laptop auf und zuckte zusammen, als der Lüfter des hochfahrenden Rechners ansprang. Das Geräusch erschien ihr in der nächtlichen Stille entsetzlich laut. Sie sah zur Tür und lauschte, aber im Haus blieb alles ruhig. Erleichtert wandte sie sich wieder dem

Weitere Kostenlose Bücher