Die Schule der Nacht
hinaufgezeigt und ihr erzählt hatte, dass der Mann im Mond auf sie aufpasste.
»Siehst du?«, hatte er immer gesagt. »Er lächelt dich sogar an.« Heute Nacht sah es jedoch nicht so aus, als würde der Mann im Mond lächeln. Er schien vielmehr höhnisch zu grinsen. Seufzend rollte sie sich wieder auf den Rücken und wünschte sich die unbeschwerte Zeit zurück, als ihr Vater jeden Tag zur Arbeit in die Redaktion gefahren war und ihre Eltern noch glücklich miteinander gewesen zu sein schienen. Vor ihrem inneren Auge stiegen verschwommene Bilder auf: wie sie auf den Schultern ihres Vaters ritt, während er durch hüfthohes wogendes Gras lief, oder neben einem in der Sonne glitzernden Bach kauerte und mit einem kleinen Kescher Kaulquappen fing, die sie in einem Marmeladenglas sammelte. Bei der Erinnerung daran huschte ihr ein Lächeln übers Gesicht, auch wenn die Bilder ihrer Kindheit ihr fast so kitschig erschienen, als wären sie einem Laura-Ashley-Katalog entsprungen. Und wo war ihre Mutter in diesen sepiagetönten Erinnerungsschnappschüssen? Sie trödelte in einem wallenden Pucci-Kaftan und einem riesigen breitkrempigen Strohhut hinter ihnen her und jammerte über aggressive Wespen, Pollen und durch UV -Strahlen ausgelösten Hautkrebs. Damals hatte Silvias Genörgel noch einen witzigen Unterton gehabt, und ihr Vater hatte darüber lachen können und gescherzt, er hätte nichts dagegen, sie durch eine Mund-zu-Mund-Beatmung vor dem sicheren Tod zu retten, falls eine Blattlaus es wagen sollte, sich auf sie zu setzen. April musste lachen, als sie daran zurückdachte. So schlimm waren ihre Eltern eigentlich gar nicht. Sie konnten sie zwar manchmal in den Wahnsinn treiben und waren ziemlich spießig, aber sie liebte sie trotzdem. Na ja, meistens zumindest.
April musste wieder daran denken, wie ihr Vater reagiert hatte, als sie ihm erzählt hatte, dass sie nach Einbruch der Dunkelheit allein die Swain’s Lane entlanggelaufen war. Wieso hatte ihn diese Vorstellung so beunruhigt? Das einzig Auffällige an der Straße war das Tor zum Friedhof, etwas weiter unten standen ansonsten nur ganz normale Wohnhäuser. Warum sollte er sich wegen eines Friedhofs Sorgen machen? Hatte es vielleicht etwas mit diesen Krankheiten und Seuchen zu tun, von denen sein neues Buch handelte? Oder mit dem Fuchs? Sie wusste, dass Wildtiere in der Regel von Parasiten befallen und oft Überträger von Krankheiten waren. Schaudernd betrachtete sie ihre Hände. Sie hatte sie unter der Dusche zwar ausgiebig geschrubbt, aber konnte sie sich sicher sein, alle ekligen Bazillen, die mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen waren, abgewaschen zu haben? Plötzlich fing es an, sie am ganzen Körper zu jucken. Sie sprang aus dem Bett, zog sich ihren Morgenmantel über und tapste in die Küche hinunter, um sich das Desinfektionsgel zu holen, das ihre Mutter in einem der Schränke aufbewahrte. Wahrscheinlich war es inzwischen sowieso schon zu spät, um etwas zu tun – gut möglich, dass sie sich bereits Listerien, die Krätze oder irgendeine andere, noch nicht einmal erforschte Krankheit eingefangen hatte –, aber es konnte auch nichts schaden, auf Nummer sicher zu gehen. Im ganzen Haus brannte kein einziges Licht, und als April am Fuß der Treppe ankam, wurde ihr Blick unwillkürlich von dem Buntglasbogenfenster über der Eingangstür angezogen. In dem hereinfallenden Licht der Straßenlaternen konnte sie den von Jägern verfolgten Hirsch erkennen, der darauf dargestellt war. Eigentlich ein seltsames Motiv für ein Londoner Stadthaus, das besser über die Tür eines alten Landsitzes gepasst hätte. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass ihr Vater ihr vorhin erzählt hatte, Highgate sei früher ein Dorf gewesen. Trotzdem wirkte die Jagdszene hier irgendwie fehl am Platz. Bei ihrem Anblick fühlte sie sich plötzlich seltsam ungeschützt, so als wäre die Haustür nicht stabil genug, um die Gefahren, die draußen in der Dunkelheit lauern konnten, fernzuhalten. Du siehst Gespenster, dachte sie, bekam aber trotzdem eine Gänsehaut. Fröstelnd ging sie in die Küche, wo sie die Schubladen und Schränke nach dem Desinfektionsgel durchsuchte. Als sie es endlich gefunden und sich die Hände mit der leicht klebrigen grünlichen Flüssigkeit eingerieben hatte, fühlte sie sich gleich ein bisschen besser. Sie nahm eine Dose Cola Light aus dem Kühlschrank, öffnete sie und wollte gerade daraus trinken, als sie zögerte. Koffein war eigentlich das Letzte, was sie jetzt
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