Die Schule der Nacht
Verbindung darin bestand, dass sie alle etwas mit ihrem neuen Wohnort zu tun hatten. April klappte den Ordner mit den Zeitungsausschnitten wieder zu, legte ihn so auf den Stapel zurück, wie sie ihn vorgefunden hatte, und nahm sich dann die drei Schreibtischschubladen vor. Die obere war abgeschlossen, aber die mittlere ließ sich öffnen. Ganz zuoberst lag der Kalender ihres Vaters, der auf jeder Seite mit Terminen, Telefonnummern und unleserlichen Anmerkungen gefüllt war, darunter befand sich ein zerfleddertes altes Notizbuch, in das er mit seiner krakeligen Handschrift Gedanken und Ideen zu seinen Recherchen festgehalten hatte. April beschloss, sich das Büchlein später genauer anzusehen, legte es jedoch erst einmal zur Seite und griff nach einem großen Nachschlagewerk mit dem Titel »Topografische Geschichte Londons«, zwischen dessen Seiten Unmengen farbiger Post-its steckten. Die markierten Seiten enthielten alte Straßenkarten, einen Plan des Kanalisationsnetzes von London und eine Karte, auf der der Verlauf des Fleet verzeichnet war, der auf seinem gewundenen Weg zur Themse durch Highgate floss. Ein paar Seiten weiter hatte ihr Vater auf einer Karte mit Bleistift etwas eingezeichnet. Die Karte stammte aus dem Jahr 1884 und dokumentierte den Ausbau der Londoner Untergrundbahn – die Linien Metropolitan District und East London , die sich bis ins East End erstreckten. Ihr Vater hatte die Haltestelle Whitechapel Station eingekringelt.
Whitechapel! April schaltete entschlossen das Licht aus, griff nach dem Notizbuch und schlich in die Küche zurück. Dort schlug sie noch einmal »Die dunkle Seite des Viktorianischen Zeitalters« auf und blätterte darin, bis sie die gesuchte Stelle gefunden hatte. Also hatte ihre Erinnerung sie nicht getrogen: Der Frauenmörder Jack the Ripper hatte 1888 in London sein Unwesen getrieben – gerade einmal vier Jahre später –, und einer der Tatorte befand sich in Whitechapel. Aber was konnte der Bau der Untergrundbahn mit Jack the Ripper zu tun haben? Das ergab keinen Sinn. Andererseits besaß das riesige unterirdische Tunnelsystem und Kanalisationsnetz der Stadt etliche Geheimgänge, die sich perfekt dazu geeignet hätten, ungestört Verbrechen zu verüben – oder sich zu verstecken. War Jack the Ripper in den Abwasserkanälen untergetaucht? Oder steckte noch mehr dahinter? April hatte den Film »From Hell« mit Johnny Depp gesehen, der auf der Theorie basiert, Jack the Ripper könne enge Verbindungen zur königlichen Familie gehabt haben. War die Königsfamilie etwa auch »vom Bösen verseucht«?
»April?«
Ihr entfuhr ein kleiner Schrei.
»Hey… keine Panik«, sagte ihr Vater, der in der Küchentür stand, und hob besänftigend die Hände. »Ich bin’s doch nur.«
April schlug das Herz bis zum Hals. Zum einen weil sie sich so erschreckt hatte, zum anderen weil sie beinahe beim Schnüffeln ertappt worden war. Aber was hieß hier »beinahe« – sie hielt das Notizbuch ihres Vaters immer noch in der Hand.
»Dad, ich…«
» WILL !«, tönte es aufgebracht von oben. »Was zum Teufel ist da unten los?«
Aprils Vater trat einen Schritt zurück in den Flur und blickte nach oben. »Meine Güte, Silvia, kein Grund, so einen Aufstand zu veranstalten. Ich unterhalte mich nur mit April«, rief er. »Geh wieder ins Bett!«
Während er abgelenkt war, ließ April das Notizbuch hastig in ihrer Schultasche verschwinden.
»Verdammt noch mal«, murmelte ihr Vater wütend. »Zum Glück ist in unserem Land der Besitz von Schusswaffen verboten. Sonst würde sie jetzt garantiert hier unten stehen und auf eingebildete Einbrecher losballern.«
»Tut mir leid, Dad«, sagte April. »Ich konnte nicht schlafen und wollte mir bloß schnell mein Buch holen.« Sie hob den Kurzgeschichtenband von John Wyndham in die Höhe.
»Die lassen dich gleich vom ersten Tag an ganz schön hart schuften, hm?«, sagte er lächelnd.
April stöhnte. »Ich hab keine Ahnung, woher ich noch Zeit für andere Dinge nehmen soll. Du müsstest mal die Leseliste für den Literaturkurs sehen, die ist ellenlang.«
Ihr Vater legte ihr einen Arm um die Schultern, drückte sie mitfühlend an sich und führte sie aus der Küche in den Flur hinaus.
»Dann solltest du jetzt lieber schnell wieder ins Bett gehen, sonst bist du morgen so müde, dass du gar nichts mehr lesen kannst.«
April nickte dankbar, und die beiden stiegen gemeinsam die Treppe hinauf. Im ersten Stock angekommen, gab sie ihrem Vater einen
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