Die Schule der Nackten
Kind mit dem runden Tablett voller Pils mit Musik zwischen den Tischen hindurch, bis weit nach hinten, wo sich der lange Schlauch der Kneipe in dichten Schwaden verlor. Während der Vater vorn am Tresen alle Hände voll zu tun hatte, die Zapfhebel zu betätigen, die Stampen vor die Stehgäste zu stellen und vor allem die Luft aus den Gläsern zu lassen, die das Kind nach hinten trug. Ich konnte sie in dieser Geschichte fast riechen: die Bierfahnen, die Zigarettenwolken, das Spülwasser, und, ganz hinten am Ende des Schlauches, den leisen Anflug von Urin der rührte von der Tür mit dem roten Lämpchen her.
Man muß nicht unterstellen, daß die Männer schmutzig waren, fröhlich ja, in ihrem Bierdunst, und ein bißchen schmutzig vielleicht. Aber sie hatten Hände, und der Weg war weit, die Tische eng beeinander, und das Mädchen Juliaan hatte mit zwölf bereits einen ausgeprägten Körper. Besonders hinten.
Wie viele Klapse sie bei jedem Durchgang einstecken mußte, bei wie vielen Durchgängen pro Tag, ist vielleicht noch zu zählen. Aber pro Woche, pro Monat, pro Jahr? Und es geschah im dreizehnten, im vierzehnten, im fünfzehnten Lebensjahr. Der Vater vorn an der Theke legte sich eine rote Knollennase zu bei seiner Tätigkeit, während die Mutter in der Küche Bockwürste heiß machte und durch ein Guckfenster in der Tür den Lebenswandel ihrer Tochter argwöhnisch verfolgte, um sie am Abend durchzuprügeln, weil sie sich hatte anfassen lassen.
«Und - hast du dich anfassen lassen?»
«Nie wieder! Von keinem Mann!»
– – –
Dieses Gespräch fand am Ende einer äußerst traurigen und auch destruktiven Woche statt, während derer sich meine alten Damen, von einem siebten Sinn befähigt, als äußerst hilfreich erwiesen hatten. Sie hatten mir Honigbonbons zugesteckt, Äpfel und Birnen und überhaupt meine offenkundige Misere mit einer Menge liebevollen Zuspruchs bedacht.
So lag ich an diesem Tag, relativ geheilt , an der Ecke des Pools, wo man eine strategische Position sowohl zur Breitseite als auch zur Schmalseite einnimmt. Lag da mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Als ein Schatten auf mich fiel, ich spürte den leisen Temperaturunterschied, den «Geist» eines Schattens, der mich anrührte, auch verdunkelte sich das Rot vor den Augen ein wenig. Was war das?
Was war geschehen?
Mein Herz stockte, mein Atem, mein alles – – es sprachen die Götter, eine Göttin sprach:
«Wie geht es dir, Alex?»
«Gut.»
Es wurde mir sofort klar, daß ich überhaupt keinen Charakter besaß - jetzt hatte sie auch noch die Haare geöffnet, die ihr als braune Flut über Schultern und Rücken flössen -, kein Mark und kein Bein. Daß ich überhaupt sprechen konnte, war schon ein Wunder. Sie kam, erschien auch nur als Schatten, und ich fiel sofort um, ich lag bereits, ein Käfer, der mit den Beinen rudert.
Der Alexander.
So begann alles aufs neue. Sehr zum Entsetzen meiner alten Damen, die, nach allem Trost und Beistand, uns wieder einträchtig beieinanderliegen sahen. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Aber was hätte ich anderes tun sollen, als in einem Meer des Glücks zu versinken, ich frage, was anderes wäre mir übriggeblieben? Montag, Dienstag, Mittwoch kam sie nicht - sie war Heilgymnastin in irgendeiner Praxis in der Innenstadt. Ich sah sie erst wieder am Donnerstag.
Juliane.
«Aber was ist mit dem verdammten Krishnu?» fragte ich.
– – –
«Was mit dem Bali und dem verdammten Yoko! Die dürfen dich anfassen?»
«Das sind Tantramänner.»
«Das ist ja grauenhaft.»
«Das ist Tantra», erklärte sie milde und süß, «davon verstehst du nichts, Alex.»
«Davon verstehe ich sogar sehr viel», entrüste ich mich, «wenn überhaupt irgend jemand, dann bin ich derjenige.»
Ich bin Trantrologe!
*
Die Geschichte des Mädchens Juliane ist nämlich noch nicht beendet, sie beginnt überhaupt erst mit den Ungeheuerlichkeiten, die ich erfuhr, während meine alten Damen dachten, wir hätten uns weitere zwei Stunden lang geküßt.
Tantra ist eine Heilslehre aus dem alten Indien. Die Erfindung des heiligen Genitals. Es ist das Auflösen des Ichs in der Ekstase, das Aufgehen in Brahma, in Gott, ein religiöses und sexuelles Ritual. Erfunden von asketischen Mönchen als Gegenbewegung zur Askese, vor tausend Jahren, eine Lehre der Bejahung. Verbreitet und ausgeübt trotz Todesstrafen und Verdammung: Sexuelle Erfüllung ist nicht das Ziel, sondern der Weg. Vom Niederen zum Höheren, zum Höchsten.
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