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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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weg.
    »Wohnen Sie auch in einem dieser reizenden Häuser am Domplatz, Mr. Slattery?« fragte ich in der Hoffnung, damit das Gespräch in ein weniger gefährliches Fahrwasser zu manövrieren. »Sie sind alle so malerisch.«
    »Leider nein. Ficklings armselige Behausung ist im Vergleich zu der meinen ein Bischofspalast. Ich habe ein paar Zimmer in einer schäbigen kleinen Straße in der Nähe.«
    Einer Eingebung folgend sagte ich auf gut Glück: »Ihre Frau wird es sicher bedauern, daß zu Ihrem Posten keines der hübschen alten Häuser bei der Kathedrale gehört.«
    »Meine Frau?« Er lächelte überrascht. Dann hob er den Kopf und lachte. »La dame n’existe pas.«
    Austin senkte den Blick. Hatte ich das Gespräch, das ich in der Bar mit angehört hatte, mißverstanden? Die Männer hatten doch davon gesprochen, daß Slattery eine Frau habe?
    »Ich weiß, wie Sie darauf kommen«, sagte Slattery mit einem Lächeln, das sein Wolfsgebiß entblößte. »Sie haben mitgehört, wie jemand über mich geredet hat. Sie haben etwas von dem böswilligen Klatsch mitbekommen, von dem diese Stadt lebt. Was haben die Leute denn gesagt?«
    Ich fälle eigentlich nur selten ein vorschnelles Urteil, aber ich stellte fest, daß ich Slattery nicht ausstehen konnte. Er hatte eine Art, die darauf schließen ließ, daß er sehr viel Zeit in Bars zugebracht hatte, und die ich als überaus unangenehm empfand. Er schwankte zwischen Angeberei und Verfolgungswahn und erweckte den Eindruck, als hielte er es für sein gutes Recht, ein bequemes Leben zu führen, ohne dafür arbeiten zu müssen. Ich hatte eine ganze Reihe von Studenten kennengelernt, die sich ebenso verhalten hatten wie er – verbitterte Sprößlinge von Familien, die ihr Vermögen eingebüßt hatten. Es stimmte mich traurig, daß ein solcher Mann ein enger Freund von Austin war.
    »Hör auf, Martin«, sagte Austin.
    »Wer war es? Hat dieses alte Waschweib Locard etwas gesagt? Fickling hat mir erzählt, daß Sie dick befreundet mit ihm sind.«
    Der junge Mann war unerträglich. »Nein, ich kann Ihnen versichern, Mr. Slattery, daß ich mit niemandem über Sie geredet habe. Wie käme ich auch dazu? Bis vor wenigen Minuten habe ich doch kaum etwas von Ihrer Existenz gewußt.«
    »In dieser Stadt kreisen die widerwärtigsten Gerüchte, und Sie haben mindestens drei von den schlimmsten Verleumdern kennengelernt: Locard, seinen scharwenzelnden Lustknaben Quitregard und dieses Plappermaul Sisterson.«
    »In jeder so engen Gemeinschaft wird geredet, und nicht alles, was geredet wird, ist bösartig«, sagte ich beschwichtigend. »Doch das kann man ignorieren. Man kann lernen, vieles zu ignorieren. Finden Sie nicht auch, daß man erstaunlich wenig braucht, um zufrieden zu sein? Bücher, Konzerte, ein paar gute Freunde.«
    »Nein«, widersprach er. »Diese Meinung teile ich ganz und gar nicht. Das Leben muß dramatisch und erregend sein. Die meisten Leute verbringen ihr Leben wie im Halbschlaf. Sie vegetieren ohne jede Leidenschaft dahin und wagen es nie, etwas zu riskieren. Sie könnten ebensogut tot sein.«
    Ohne recht zu wissen warum, wurde ich langsam ärgerlich. »Ich finde alle Erregung, die ich brauche, in der Literatur, der Geschichte, der Musik.«
    Er sah mich auf eine Weise an, die ich nur als stille Verachtung deuten konnte.
    »Findet nicht jeder phantasiebegabte Mensch genug Interessantes in den einfachsten Dingen des Lebens?« fuhr ich fort. »Das sicherste Leben – ein Leben, das andere als absolut normal verachten – kann auf unsichtbare Weise dramatisch sein.«
    »Ist das Leben denn jemals sicher?« fragte er. »Wir alle wandern auf einem schmalen Pfad durch den Nebel. Gelegentlich bläst ein Windstoß diesen Nebel hinweg, und wir erkennen, daß wir uns auf einem messerscharfen Grat befinden und zu beiden Seiten Hunderte von Metern in die Tiefe zu stürzen drohen.«
    Ich sah ihn verblüfft an. Aber bevor ich ihm eine Antwort geben konnte, meinte Austin: »Ihr beide sagt genau das gleiche.«
    Wir wandten uns überrascht zu ihm um. »Du, Ed, sagst, daß jedes Leben unter der Oberfläche erregend und dramatisch ist. Und genau das hat Slattery soeben auch erklärt.«
    Ich setzte gerade zu einer Antwort an, als wir unterbrochen wurden.
    Ein Mann kam in die Bar gestürzt und rief seinen Freunden in der anderen Ecke zu: »Im Haus von dem Alten da drüben ist was passiert.«
    Er und zwei seiner Gefährten stellten sich ans Fenster neben dem unseren. Wir blickten alle hinaus und

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