Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
Vom Netzwerk:
drüben ein Tor«, sagte ich und lief zum Weg hinüber.
    Kurz darauf standen wir vor einem großen, schwarzen Tor. »Es ist zu«, sagte Uri. Es hörte sich fast erleichtert an.
    »Nicht dass ich Angst hätte«, sagte er, als könne er Gedanken lesen. »Ich habe überhaupt keine Angst. Ich möchte nur nicht zu einem christlichen Platz, noch dazu zu einem, wo Waisen leben.«
    »Meinst du etwa, sie schnappen dich und stecken dich zu den Waisen«, fragte ich ohne zu lachen.
    Streichholz Malul hatte mit seiner Clique die Treppe erreicht.
    »Los, versuchen wir, ob wir reinkommen«, flüsterte ich Uri zu. »Ich möchte was nachschauen.«
    Das Tor war verschlossen. Die Besuchszeit ging bis fünf Uhr, so stand es auf dem Schild, und jetzt war’s schon sechs und die Sonne war fast untergegangen, aber es war noch warm. Ich hasse den Winter, der den Tag kürzer macht, und ich hasse es auch, dass man bis nach Pessach warten muss, bis die Uhr wieder umgestellt wird. Wir hatten schon Frühling, bald würde der Sommer anfangen und noch immer wurde es um halb sieben dunkel. Und wegen der frühen Dunkelheit hat meine Mutter immer das Gefühl, acht Uhr wär mitten in der Nacht.
    Ich drückte mein Ohr an das Tor, hörte aber nichts. Ich kletterte auf die unterste Stange, um durch die Luke zu sehen, die sich im Tor befand. Ich hielt mich an den Stäben fest und zog mich hoch wie an einem Klettergerüst. Nun konnte ich alles überblicken: den Park, die Pflanzen, die weißen Grabsteine, die von der untergehenden Sonne etwas rötlich gefärbt waren. Plötzlich hatte ich keine Kraft mehr in den Händen und ließ mich wieder hinunter, und gerade in dem Moment fingen die Glocken an zu läuten. Sie machten einen solchen Lärm, dass von Maluls Clique nichts mehr zu hören war.
    »Ist da ein Friedhof«, fragte Uri und zitterte vor Angst. »Ich hab dir ja gesagt, dass da ein Friedhof ist, ich erinnere mich noch von damals dran.«
    »Die Toten sind schon gestorben«, sagte ich. »Was können sie uns also tun?«
    Plötzlich hörten wir Schritte und das Rasseln von Schlüsseln. Das Tor ging quietschend auf. Eine alte Frau mit einer weißen Kopfbedeckung stand vor uns. Sie trug ein graues Kleid, auf dem ein Holzkreuz hing, mit silbernen Kugeln an den Enden. Das Kreuz schaukelte auf ihrer Hüfte, als sie uns fragte, was wir da trieben. Sie schrie nicht, sie fragte, aber ihre Stimme klang vorwurfsvoll. Uri stellte sich hinter mich.
    Ich sagte, wir hätten uns verlaufen und würden unseren Freund suchen, der sich auch verlaufen hätte.
    »Ich habe hier keinen Jungen gesehen«, sagte die Nonne und ich wunderte mich, dass sie Hebräisch konnte.
    »Das waren nicht wir, die diesen Lärm gemacht haben«, sagte ich, »das waren die dort.« Ich deutete auf die Streichholz-Clique.
    Die Nonne trat aus dem Tor und ging die Stufen hinunter. Mit der einen Hand hielt sie ihren Rock ein bisschen hoch, um nicht darüber zu stolpern. Für eine alte Frau mit einem so kleinen, faltigen Gesicht war sie ganz schön kräftig. Kurz darauf war sie unten, stand vor der Clique und sagte etwas zu den Jungen. Es war still, die Glocken hatten aufgehört zu läuten, auch ihr Echo war nicht mehr zu hören, aber ich hörte trotzdem nicht, was sie sagte. Ich sah nur, wie Streichholz Malul und seine Clique sich umdrehten und in die andere Richtung davongingen. Ich hätte gern gewusst, wie sie das geschafft hatte, aber ich traute mich nicht, sie zu fragen, als sie wieder heraufkam. Vielleicht hatte sie ihnen mit der Polizei gedroht oder mit den Geistern der Toten. Es war schon fast dunkel, wir konnten die Clique kaum mehr erkennen, die sich schnell auf der Straße entfernte.
    »Ihr müsst nach Hause gehen«, sagte die Nonne und griff nach ihrem Kreuz. Ich spürte, wie Uri, der sich immer noch hinter mir versteckte, zitterte.
    Es gibt Dinge, die kann man nicht erklären. Vielleicht lag es an der Kleidung der Nonne, an die wir nicht gewöhnt waren, vielleicht an ihrer Stimme oder an beidem zugleich, jedenfalls benahmen wir uns anders als sonst. Ich sprach auch ganz ruhig, genau wie sie, dabei hatte ich keine Angst vor ihr, wirklich nicht. Ich spürte nur, dass ich ihr nicht irgendwelche Geschichten erzählen konnte.
    Ich sagte also, nach Auskunft seiner Mutter habe mein Freund einen Spaziergang zum Kloster machen wollen. Er kenne sich aber überhaupt nicht aus und sei auch nicht sehr selbstständig, außerdem noch ziemlich klein.
    Wieder sagte sie, sie habe niemanden gesehen und wir

Weitere Kostenlose Bücher