Die schwarze Schatulle
und sie antwortete auf Englisch, als wär ich der Landesmeister aller Englisch sprechenden Bürger Israels. Ich strengte mich an, ihr zu folgen, aber ich kapierte mit Müh und Not, dass Benji zum Kloster gegangen war, einen Spaziergang machen.
Das hörte sich sehr seltsam an. Benji und ein Spaziergang zum Kloster? Benji mag keine Spaziergänge. Er sitzt lieber in seinem Zimmer und spielt mit dem Computer oder sieht fern und isst Chips und Erdnussflips.
»Zum Kloster«, wiederholte ich zur Sicherheit. »Allein?«
Wieder antwortete sie auf Englisch und ich hoffte, wenigstens Uri würde alles verstehen, denn sie sprach wirklich sehr schnell. Alle Wörter hingen bei ihr aneinander. Trotzdem verstand ich, dass er von einem Freund abgeholt worden war, den sie nicht kannte, und dass sie zusammen zum Kloster gegangen waren.
»Ein Freund«, fragte ich erstaunt. »Was für ein Freund?«
Sie schaute mich an, als wäre das eine sehr seltsame Frage. Sie zuckte mit den Schultern und sagte (auf Englisch und genauso schnell), dass sie nicht alle Freunde von Benji kenne, aber er sei ziemlich groß gewesen.
Ich merkte, dass es nichts brachte, sie weiter zu fragen. Diese Frau hatte von nichts eine Ahnung. Benji hatte keinen Freund außer mir und ganz bestimmt keinen großen.
Ich erkundigte mich, welches Kloster sie meinte, denn in Ein-Kerem gibt es mehrere.
Sie deutete Richtung Quelle und ich kapierte, dass wir den Weg zu dem Kiosk einschlagen mussten, wo ich mit Joli gewesen war. Ein Kloster kann man einfach nicht übersehen, dachte ich. Wenn wir in dieser Richtung gehen, werden wir es bestimmt finden. Benjis Mutter zog den Teufel hinein und schloss das Tor. Uri und ich stiegen den Hügel zur Hauptstraße hinunter.
»Weißt du nicht mehr, Schabi«, sagte Uri. »Dein Vater ist mal mit uns zu einem Kloster gegangen, ich glaube, wir waren in der ersten Klasse.«
»Zu einem Kloster?« Ich erinnerte mich nicht.
»Wieso weißt du das nicht mehr?« Uri war erstaunt und machte ein paar Sprünge auf der Straße. Ich zog ihn auf den Gehweg, denn es fuhren Autos vorbei. »Wieso weißt du das nicht mehr? Er hat uns den Friedhof gezeigt, erinnerst du dich? Und ich hatte schreckliche Angst, weil du gesagt hast, wenn wir bleiben, bis es dunkel wird, werden die Geister der Toten herauskommen und uns am Hals packen. Und was für eine Angst ich hatte! Die ganze Nacht lang. Gut, ich war damals noch klein. Erinnerst du dich wirklich nicht?«
Nein, ich erinnerte mich nicht. Mein Vater hatte mich wirklich zu vielen Plätzen mitgenommen und mir alles Mögliche erklärt, auch wenn ich mich nicht mehr an alles erinnerte. Ich wusste nur, dass es so gewesen war. Als hätte es mir jemand anderes erzählt und die Einzelheiten wären mir entfallen. Außerdem wollte ich nicht daran erinnert werden. Ich mag es nicht, an Dinge aus meiner Kindheit zu denken. Wenn man aufhört, sich an etwas Gutes zu erinnern, das man früher einmal hatte und jetzt nicht mehr, tut es weniger weh. So habe ich gelernt, mit meinem Vater, der nur noch im Sessel saß, zu leben, mit seinem Schweigen, so war es nun mal, so und nicht anders. Warum sollte ich mich nach etwas sehnen, was nie sein würde? Aber Uris Worte und ein verschwommenes Bild von Treppen, einer Mauer und Bäumen gaben mir einen Stich ins Herz. Auch die Luft, die anfing, graugolden und irgendwie zittrig zu werden, die bläulichen Hügel in der Ferne, die Kirchenglocken – alle halbe Stunde schlagen sie zweimal –, das alles machte mich traurig.
Wir liefen schnell und ich sagte nur zweimal zu Uri, er solle aufhören, den Ball in die Luft zu werfen. Nach dem zweiten Mal, als ich schon nervös wurde, hatte er es kapiert und hörte tatsächlich auf. Wir kamen zu einer Straße, die zur Quelle hinunterführte, und lasen die Hinweisschilder. Auf einem stand: »Kloster der Schwestern Rosa-ry«, auf einem dicken Pfeil: »Zum Waisenhaus«, und auf einem zweiten Schild: »Besucherkirche«.
»Wen besucht man dort«, witzelte Uri. »Vielleicht Jesus?«
Mir war nicht nach seinen komischen Bemerkungen. Es tat mir schon Leid, dass ich ihn überhaupt mitgenommen hatte. Nicht dass ich etwas gegen ihn hätte, ich wär jetzt nur lieber allein gewesen. Ich wollte nicht reden. Zum einen, weil ich ein bisschen traurig war, zum andern, weil ich immer an diesen »großen« Freund denken musste. Irgendwie hoffte ich, Benjis Mutter hätte sich geirrt und es gäbe keinen solchen Freund. Von dort aus, wo wir standen, konnte man eine
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