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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Damals waren wir vom ersten Moment an voll bei der Sache gewesen.
    Eine ganze Schulstunde lang schrieben wir unsere Namen auf Zettel, die, gut zusammengefaltet, in einen großen Hut kamen. Dann brachte der Klassensprecher – im letzten Jahr war ich es – den Hut zur Parallelklasse und unterwegs mischte er alle Zettel noch einmal durch. In der anderen Klasse ging er von einem Schüler zum nächsten und jeder nahm sich einen Zettel heraus. Umgekehrt kam der Klassensprecher der Parallelklasse mit einem ähnlichen Hut zu uns. Das heißt, nicht der Hut, sondern die zusammengefalteten Zettel darin waren ähnlich. Jeder, der einen Zettel gezogen hatte, versteckte ihn schnell in der Faust, und um zu sehen, wer es war, öffnete man die Faust gerade weit genug, um hineinzulinsen, aber nicht so weit, dass der Nebenmann etwas sehen konnte. Auf dem Zettel stand nur ein Name. Der Name dessen, den man zu töten hatte.
    Als wir klein waren, in der vierten oder fünften Klasse, regten wir uns wirklich noch sehr auf und liefen eine ganze Woche mit unserem Geheimnis herum. Ich glaube, nur die Mädchen sagten ihren besten Freundinnen, wen sie gezogen hatten, die Jungen taten es jedenfalls nicht. Aber wenn man es bedenkt, passierte nie wirklich etwas. Alle liefen herum und verdächtigten sich gegenseitig, doch ansonsten war das Spiel sehr einfach. Natürlich gab es alle möglichen Tricks. Es ist ein gutes Spiel, um andere zu erschrecken. So kann man Drohbriefe in die Schultasche des Betreffenden schmuggeln oder jemanden erschrecken, den man überhaupt nicht gezogen hat. Man kann ihn auf dem Heimweg verfolgen, bis er anfängt zu rennen. Man kann sich auch jemandem nähern, der gerade am Kiosk steht und sein Eis auswickelt. Dann flüstert man ihm ins Ohr, er sei tot, und auf diese Art hat man auch noch das Eis verdient. Denn wie kann ein Toter Eis essen? Es klappt natürlich nur, wenn Esther nichts hört.
    Als ich in der vierten Klasse war, sagte meine Mutter am Elternsprechtag zu meiner Klassenlehrerin, das sei ein dummes und überflüssiges Spiel. Unsere damalige Klassenlehrerin war nicht so toll und außerdem stand sie kurz vor dem Schwangerschaftsurlaub, sie sagte, das Spiel habe ein paar nützliche Aspekte. Und dann sagte sie ein Wort, das ich nicht verstand, das meine Mutter aber einige Male wiederholte. Sublimation hieß es. Bis heute weiß ich nicht, was es bedeutet. Da sei keine Spur von Sublimation dabei, widersprach meine Mutter damals. »Im Gegenteil, das verstärkt die Gewalt noch. Wenn solche Spiele gespielt werden, ist es kein Wunder, dass unser Land so aussieht, wie es aussieht.«

    Benji hatte seinen Zettel bekommen, noch bevor die Woche des Mörderspiels anfing, das heißt noch bevor überhaupt Namenszettel vorbereitet worden waren. Er war also nicht gezogen worden, sondern jemand hatte ihn einfach als Opfer ausgewählt. Speziell ihn, so wie auch Esther ihren Zettel ohne jede Verlosung bekommen hatte. Jemand hatte beschlossen, ihr Angst einzujagen. Das alles erklärte ich Hirsch, als wir schon wieder bei ihm zu Hause waren. Er hörte zu und riss die Augen auf und das Hellblau verdunkelte sich nicht. Er sagte auch nicht, dass es ein dummes Spiel sei, mit dem man unbedingt aufhören müsse. Er sagte: »How interesting« – wie interessant.
    »Und noch nie hat ein Erwachsener bei diesem Spiel mitgemacht«, sagte Joli. »Nie hat ein Erwachsener einen Zettel bekommen. Das Spiel gilt nur für die Kinder unserer Schule. Wieso hat Esther einen Zettel bekommen?«
    Hirsch schaute von dem Papier hoch, mit dem er sich die ganze Zeit beschäftigt hatte. Er hatte gelbes Pulver draufgestreut und es dann durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Jetzt sagte er: »Nun, wer hat Esther Zettel gegeben, hat auch im Kiosk gestohlen.«
    »Ein Einbruch ist kein Spiel«, sagte ich. »Warum soll er sich eine Blöße geben? Das heißt doch verraten, wer er ist?«
    »Menschen sind seltsam«, sagte Hirsch. »Machen etwas und machen auch Gegenteil.«
    Joli verzog den Mund. Sie hatte Hirsch noch nicht verziehen, dass er ihr nichts von seiner neuen Freundschaft mit Esther erzählt hatte.
    Hirsch steckte das Vergrößerungsglas in die dazugehörige Schachtel. »Hier gibt es bestimmt Finger von Esther, von Joli, von mir und von dir«, sagte er. »Aber gibt auch noch Finger von jemand anderm, wir finden heraus. Wir beobachten auch Kiosk von Esther. Wann fängst du mit Malen an?«
    Ich hatte keine Ahnung, was für ein Bild ich für sie malen sollte und

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