Die schwarzen Juwelen 01 - Dunkelheit
seufzend die Nase. Sie hatte den ganzen Weg zurückgelegt, um eine Ruine vorzufinden. Obwohl sie erst am Anfang eines womöglich sehr, sehr langen Lebens stand, hatte sie schon genug Jahre hinter sich gebracht, um feststellen zu müssen, dass Orte, an denen sie einst gewesen war, bis zu ihrem nächsten Besuch zerfallen waren. Was in den Augen der meisten anderen altertümliche Geschichte darstellte, war für sie bloße Erinnerung. Der Gedanke war bedrückend.
Während sie sich das Haar aus dem Gesicht strich, trat sie durch einen offenen Eingang, um sich umzusehen. Die Lücken im Mauerwerk wie auch die Löcher im Dach entgingen ihr nicht. Es war ohne Zweifel verlockender, in der Herbstsonne zu sitzen, als durch kühle, karge Räume zu laufen, und so wandte sie sich zum Gehen, doch als sie den Eingang erreichte, hörte sie Schritte hinter sich.
Die Frau, die aus den inneren Räumen trat, trug eine Tunika und eine Hose aus schimmerndem, grau-schwarzem Stoff. Ihr rotes Haar, das ihr über die Schultern fiel, wurde von einem silbernen Diadem gebändigt, das ihren Kopf perfekt umschloss. Knapp über ihrer Brust hing ein rotes Juwel. Ihr Begrüßungslächeln war warmherzig, aber nicht überschwänglich.
»Wie kann ich dir dienen, Schwester?«, fragte sie leise.
Das Haar, dessen kraftvolle Farbe dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen war, sowie die Falten im Gesicht der Frau ließen ihre Jahre erkennen, doch ihre smaragdgrünen Augen und die stolze Haltung verrieten, dass es sich bei ihr um eine Hexe handelte, die nicht zu unterschätzen war.
»Verzeihung, Lady.« Surreal erwiderte den unverwandten Blick ihres Gegenübers. »Ich bin hergekommen, um mir den Altar anzusehen. Dass hier jemand lebt, wusste ich nicht.«
»Um den Altar anzusehen oder ihn zu befragen?«
Verwirrt schüttelte Surreal den Kopf.
»Wenn jemand einen Dunklen Altar aufsucht, geschieht dies normalerweise auf der Suche nach Hilfe oder nach Antworten auf Fragen in Herzensangelegenheiten.«
Surreal zuckte die Schultern. Sie hatte sich seit ihrem ersten Kunden in ihrem ersten Haus des Roten Mondes nicht mehr so linkisch und unbeholfen gefühlt. Damals hatte sie feststellen müssen, wie wenig sie in jenen schmutzigen, kleinen Hinterzimmern gelernt hatte. »Ich bin gekommen ...« Da drangen die Worte der Frau endlich zu ihr durch. Herzensangelegenheiten. »Ich würde gerne wissen, aus welchem Volk meine Mutter stammt.«
Mit einem Mal spürte Surreal ein Flüstern, das die ganze Zeit über da gewesen sein musste, eine Dunkelheit und Kraft, auf die sie nicht vorbereitet war. Als sie den Blick erneut durch die heilige Stätte schweifen ließ, wurde ihr bewusst, dass die von Menschenhand errichteten Bauten ohne jegliche Bedeutung waren. Der Ort an sich beherbergte die Macht.
Der Blick der Frau wurde nicht für den Bruchteil einer Sekunde unschlüssig. »Alles hat seinen Preis«, sagte sie leise. »Bist du bereit, für das, was du erfahren willst, zu zahlen? «
Surreal griff in ihre Tasche und holte eine Hand voll Goldstücke hervor.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Die Antwort wird nicht in dieser Münze bezahlt.« Sie wandte sich der Türöffnung zu, durch die sie gekommen war. »Komm, ich setze Tee auf und wir unterhalten uns ein wenig. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.« Sie bog in den Gang ein und überließ es Surreal, ihr zu folgen oder auch nicht.
Einen Augenblick lang zögerte Surreal, bevor sie die Münzen in die Tasche zurückgleiten ließ und der Frau nachging. Teils lag es an der plötzlichen Ehrfurcht gegenüber dem Ort, teils war es Neugier, welchen Preis diese Hexe für die Informationen verlangen würde, teils die Hoffnung, dass sie endlich eine Antwort auf eine Frage erhalten könnte, die sie nicht mehr losgelassen hatte, seitdem ihr vollends aufgegangen war, wie sehr Titian sich von allen anderen unterschieden hatte. Davon abgesehen konnte sie gut mit dem Messer umgehen und trug das graue Juwel. Der Ort mochte ihr Ehrfurcht einflößen, die Hexe hingegen nicht.
Die Küche war gemütlich und aufgeräumt. Die völlig andere Atmosphäre dieses Zimmers im Vergleich zum Rest der heiligen Stätte brachte sie zum Lächeln. Selbst die Frau wirkte nun eher harmlos, als sie eine fröhliche Melodie anstimmte, während das Wasser heiß wurde. Surreal setzte sich auf einen Stuhl, stützte sich mit den Ellbogen auf dem
Kieferntisch ab und beobachtete belustigt und ohne etwas zu sagen, wie ein Teller mit Gebäck, eine kleine Schüssel
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