Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung
Garten hinter ihrem Haus, und ihre bloßen Füße versanken in dem knöcheltiefen Schnee. Der Vollmond versteckte sich in den Wolken, ähnlich wie sich ihr die Vision den ganzen Tag über entzogen hatte. Da Tersa schon so viele Jahrhunderte lang inmitten von Visionen lebte, hatte sie eingesehen, dass diese eine nach einer physischen Gestalt verlangte, bevor sie sich offenbaren würde.
Deshalb ließ Tersa ihren Körper das Instrument der Traumlandschaft sein und bediente sich der Kunst, um die Kugel und die Schüssel durch die Luft gleiten zu lassen. Als die beiden Gegenstände die Mitte des Rasens erreicht hatten, sanken sie geräuschlos in den Schnee nieder.
Sie machte einen Schritt darauf zu und blickte dann zu Boden. Der Saum ihres Nachthemds strich über die Schneedecke und brachte sie durcheinander. Das durfte nicht sein. Sie zog es aus und schleuderte es vor die Hintertür, bevor sie auf die Kugel und die Schüssel zuging. Sie hielt inne. Ja. Dies war der richtige Ort, um zu beginnen.
Ein großer Schritt, um den Schnee zwischen ihren bisherigen nachlässigen Fußabdrücken und denjenigen, die von der Vision geführt würden, unberührt zu lassen. Dann setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, die Ferse des einen dicht an die Zehen des anderen gedrückt, und wartete. Da war noch etwas, etwas anderes, das sie tun musste.
Mithilfe der Kunst schliff sie einen Fingernagel und schnitt sich tief genug in den Spann eines jeden Fußes, dass das Blut frei hervorquoll. Dann ging sie das Muster der Vision nach.
Sobald die Vision sie zurück zu ihrem ersten Fußabdruck geführt hatte, sprang sie zurück in Richtung der Hintertür, wo ihre schlurfenden Schritte im Schnee vorhin Abdrücke hinterlassen hatten.
Als sie sich umdrehte, um das Muster zu betrachten, rief die noch nicht voll ausgebildete Schwarze Witwe, die ein paar Wochen bei ihr wohnte: »Tersa? Was treibst du zu dieser Nachtzeit da draußen?«
Mit einem Knurren wirbelte Tersa herum und stellte sich der jungen Hexe entgegen.
Einen Augenblick lang sah die Gesellin ihr ins Gesicht. Anschließend holte die Hexe das hingeworfene Nachthemd und riss es in Streifen, die sie Tersa um die Füße wickelte, um das Blut aufzusaugen. Dann trat sie zur Seite.
Hastig lief Tersa die Treppe zu ihrem Schlafzimmer empor. Sie öffnete die Vorhänge und blickte auf den Garten und die Spuren hinab, die sie mit ihrem Blut im Schnee hinterlassen hatte.
Zwei Seiten eines Dreiecks, stark und miteinander verbunden. Der Vater und der Bruder. Die dritte Seite, der Spiegel des Vaters, war von den anderen beiden getrennt und in der Mitte nur noch ganz dünn. Sollte diese Seite völlig zerbrechen, würde sie nie wieder stark genug sein, um das Dreieck zu vervollständigen.
Mondlicht und Schatten füllten den Garten. Die kobaltblaue Kugel und die Schüssel, die in der Mitte des Dreiecks lagen, wurden zu saphirblauen Augen.
»Ja«, flüsterte Tersa. »Die Fäden sind nun an ihrem Platz. Es ist an der Zeit.«
Nachdem Saetan Jaenelles stillschweigende Erlaubnis erhalten hatte, betrat er ihr Wohnzimmer. Er warf einen Blick in Richtung des dunklen Schlafzimmers, in dem Kaelas und Ladvarian wach und ängstlich abwarteten. Bestimmt würde Lucivar bald auf der Bildfläche erscheinen. In den fünf Monaten, die Lucivar ihr nun gedient hatte, war er sehr sensibel geworden, was Jaenelles Stimmungen betraf.
Saetan ließ sich auf dem Kniekissen vor dem gepolsterten Sessel nieder, in dem Jaenelle eingerollt saß. »Schlecht geträumt? «, erkundigte er sich. Im Laufe der letzten paar Wochen hatte es etliche ruhelose Nächte und Alpträume gegeben.
»Ein Traum«, pflichtete sie ihm bei. Dann zögerte sie einen Augenblick lang. »Ich stand vor einer trüben Kristalltür. Was dahinter war, konnte ich nicht erkennen, und ich wusste auch nicht, ob ich es überhaupt sehen wollte . Doch jemand versuchte ständig, mir einen goldenen Schlüssel zu geben, und ich wusste, dass sich die Tür öffnen würde, sobald ich nach dem Schlüssel griff. Dann würde ich erfahren müssen, was dahinter verborgen lag.«
»Hast du den Schlüssel genommen?« Er gab sich Mühe, ruhig und besänftigend zu klingen, obgleich ihm das Herz bis in den Hals schlug.
»Ich bin aufgewacht, bevor ich ihn berühren konnte.« Sie lächelte müde.
Es war das erste Mal, dass sie sich nach dem Erwachen an einen jener Träume erinnern konnte. Er war sich darüber im Klaren, welche Erinnerungen sich hinter jener Kristalltür
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