Die schwarzen Juwelen 02 - Dämmerung
nichts.
Mehrere Minuten lang ging sie die Umgebung ab, den Blick unverwandt auf den Boden gerichtet, als suche sie nach einer bestimmten Stelle.
Als sie endlich zufrieden war, wandte sie sich gen Norden. Sie erhob Kaetiens Horn gen Himmel und stimmte einen durchdringenden Ton an. Dann ließ sie die Hände sinken, deutete mit dem Horn auf den Erdboden und sang einen anderen Ton. Dann fuhren ihre Arme wieder in die Höhe, und sie begann ein Lied in der Alten Sprache zu singen.
Ein Hexenlied. Gesungen von Hexe .
Saetan konnte es in seinen Knochen spüren, in seinem Blut.
Zu ihren Füßen bildete sich ein gespenstisches Netz aus Macht, das sich über den Boden ausbreitete. Immer weiter und weiter.
Ihr Gesang änderte sich und wurde zu einem Klagelied, das voll Trauer und gleichzeitig eine Feier des Lebens war. Ihre Stimme wurde der Wind, das Wasser, das Gras, die Bäume.
Die reglosen weißen Körper der toten Einhörner fingen an zu leuchten. Gebannt fragte Saetan sich, ob die schimmernden Körper von oben wie Sterne aussahen, die sich zur ewigen Ruhe auf heiligem Boden niedergelassen hatten.
Vielleicht sahen sie so aus. Vielleicht war es auch tatsächlich so.
Wieder änderte sich der Gesang, bis er zu einer Mischung der ersten beiden Lieder geworden war. Ende und Anfang. Aus dem Land kommend und wieder zum Land zurückkehrend.
Die Einhornkörper verschmolzen mit dem Boden und verschwanden in der Erde.
Verwandte Wesen kamen niemals ins Dunkle Reich. Jetzt wusste er, wieso. Genauso, wie er endlich wusste, warum es
Menschen nicht ohne weiteres gelang, sich in den Territorien der verwandten Wesen niederzulassen, wenn sie dort nicht willkommen waren; und was jene Mulden voll Macht geschaffen hatte, die er im Laufe des Tages so sorgfältig gemieden hatte.
Verwandte Wesen verließen nach ihrem Tod nicht ihr Territorium, sondern wurden ein Teil davon. Die Kraft, die noch in ihnen war, verband sich mit dem Land.
Das geisterhafte Netz der Macht verblasste.
Jaenelles Stimme wurde zusammen mit dem Tageslicht schwächer.
Niemand rührte sich. Keiner sprach.
Als Saetan wieder ganz zu sich gekommen war, stellte er fest, dass Lucivar ihm den Arm um die Schultern gelegt hatte.
»Verdammt noch mal«, flüsterte Lucivar, der sich Tränen aus den Augen wischte.
»Der lebende Mythos«, wisperte Saetan. »Fleisch gewordene Träume.« Seine Kehle schnürte sich zu. Er schloss die Augen.
Kurz darauf konnte er spüren, wie Lucivar aufstand.
Als der Höllenfürst wieder die Augen aufschlug, sah er, dass Lucivar Jaenelle stützte und zurück ins Lager geleitete. Ihr Gesicht war von Schmerzen und Erschöpfung gezeichnet, doch in ihrem saphirblauen Blick lag Frieden.
Der Hexensabbat versammelte sich um sie und führte sie in den Wald.
Die jungen Männer unterhielten sich mit gedämpften Stimmen untereinander, während sie die Töpfe umrührten, Brot und Käse schnitten, und Schüsseln und Teller für das Abendessen zusammentrugen.
Jenseits des Feuerscheins ließen sich die Einhörner zur Nachtruhe nieder.
Khary und Aaron brachten Ladvarian und Kaelas, die bei den Fohlen wachten, Schüsseln mit Eintopf und Wasser.
Als die Mädchen zurückkehrten, trug Jaenelle Hosen und einen langen, dicken Pullover. Sie knurrte Lucivar halbherzig
an, als er sie in eine Decke wickelte und sie auf dem Baumstamm neben Saetan niedersetzte. Doch sie murrte nicht über das Essen, das er ihr brachte.
Während der Mahlzeit wurde nur leise gesprochen. Man tauschte Nebensächlichkeiten und sanfte Neckereien aus, ohne über das zu reden, was man tagsüber getan hatte, oder was am folgenden Tag vor ihnen lag. Trotz all ihrer Anstrengungen hatten sie nur einen winzigen Teil von Sceval gesehen, und nur Jaenelle konnte wissen, wie viele Einhörner es auf der Insel gab.
Nur Jaenelle konnte wissen, wie viele von ihnen ins Land zurückgesungen worden waren.
»Saetan?«, sagte Jaenelle und lehnte den Kopf an seine Schulter.
Er küsste sie auf die Stirn. »Hexenkind?« Sie reagierte so lange nicht, dass er schon glaubte, sie sei eingenickt.
»Wann tagt der Dunkle Rat das nächste Mal?«
5Kaeleer
L ord Magstrom versuchte, sich auf die Frau im Bittstellerkreis zu konzentrieren, doch sie erhob die gleichen Beschwerden wie die sieben Bittstellerinnen vor ihr, und er bezweifelte, dass die zwanzig Bittstellerinnen nach ihr dem Dunklen Rat etwas anderes zu sagen haben würden.
Als er Dritter Tribun geworden war, hatte er erwartet, dass seine Meinung fortan
Weitere Kostenlose Bücher