Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
Zeremonie, aber normalerweise würde kein lebender Mann je einen ganzen Becher trinken.
Er kehrte zu seinem Stuhl zurück und nippte an dem Blutwein, den Blick unverwandt auf das Gesicht seines Vaters gerichtet.
»Onkel Andulvar hat mir erzählt, dass du dich geweigert hast, in dem Krieg zu kämpfen. Du hast gesagt, als Hüter hättest du kein Recht, dich in die Belange der Reiche der Lebenden einzumischen.«
»Ja«, erwiderte Saetan, dessen Stimme kaum noch ein Flüstern war. »Das habe ich gesagt.«
»Es muss ihn ziemlich geärgert haben, als er aus dem Blutrausch zurückkehrte und dich dort stehen sah, einen Schritt von der Grenze entfernt – der entscheidende Schritt, der dich von dem Kampf getrennt hat.«
Der Hauch eines grimmigen Lächelns erschien auf Saetans Zügen und war im nächsten Augenblick verschwunden. »Ich glaube nicht, dass er mir jemals verziehen hat. Nicht vollständig.«
»Komisch, dass er sich nie Gedanken darüber gemacht hat, warum du überhaupt dort gewesen bist.«
»Es war ein Schlachtfeld voller Männer im Blutrausch, Lucivar. Tausende wurden niedergemetzelt.«
»Also war der Höllenfürst dort, um seinen engsten Freund und dessen Enkel zu finden und ihnen zu helfen, sich in Dämonentote zu verwandeln.«
»Ja.«
Lucivar lächelte nur und sagte: »Lügner.«
Keine Antwort. Nur sichtbare Selbstbeherrschung.
»Ich bin ein genialer Krieger im Blutrausch, und ich glaube, ich durchschaue dich besser, als Andulvar es je getan hat.«
Immer noch keine Antwort. Er erwartete auch keine.
»Die entscheidende Schlacht«, sagte Lucivar sanft. »Der richtige Ort – und die richtigen Männer – die Hekatahs Versuch, die Reiche unter ihre Kontrolle zu bringen, Einhalt gebieten konnten. Der Mann , der Hekatah Einhalt gebieten konnte. Solange Andulvar Yaslana, der Dämonenprinz, Krieger in die Schlacht führen konnte, schwanden Hekatahs Aussichten auf den Sieg mit jedem Kampf. Deshalb musste sie ihn ausschalten, ihn vollständig vernichten.
»Du hattest erklärt, dass du nicht an den Kämpfen teilnehmen würdest. Ein Hüter hat nicht das Recht, sich in die Belange der Lebenden einzumischen. Das hast du gesagt. Du hältst dich an deinen Ehrenkodex, koste es, was es wolle. Sowohl Hekatah als auch Andulvar wussten das.«
»Worauf willst du hinaus, Lucivar?«
Er vernahm die Warnung. Sah etwas Tödliches in den goldenen Augen seines Vaters aufflackern, bevor Saetan seine ganze eindrucksvolle Selbstbeherrschung wiedergewann. Doch er würde nicht aufhören, würde etwas ansprechen, das fünfzigtausend Jahre lang verborgen gewesen war.
»Das Heer, das an dem Tag gegen Andulvar und seine Männer angetreten ist, all die Männer im Blutrausch – sie waren nur Kanonenfutter. Sie sollten die Kraft in Andulvars schwarzgrauen Juwelen aufzehren, ihn verwunden, schwächen, die Männer um ihn her töten. Doch Hekatah hatte nicht erwartet, dass sie siegen würden. Ein weiteres Heer sollte das Schlachtfeld erreichen. Frische Krieger, die dazu ausersehen waren, gegen Überlebende anzutreten, die
schon seit Stunden gekämpft hatten. Das waren die Krieger, die die Schlacht gewinnen sollten. Sie sollten siegreich aus dem Blutrausch zurückkehren.
»Doch sie erreichten das Schlachtfeld nie, stimmt’s? Denn sie trafen auf einen anderen Feind. Einen, mit dessen Gegenwart sie nicht gerechnet hatten. Einen, der nicht mit der Klinge kämpfte. Einen, dessen Macht und Können und Wut … Tja, wie du schon sagtest – Tausende wurden niedergemetzelt.«
Er erwartete keine Reaktion von Saetan, und es gab auch keine. Außerdem war er sich nicht sicher, ob er überhaupt wollte, dass Saetan zugab, gegen den Ehrenkodex verstoßen zu haben.
»Wenn Andulvar, Prothvar und ihre überlebenden Männer an jenem Tag nicht siegreich aus dem Blutrausch zurückgekehrt wären, hätte Hekatah den Krieg zwischen Kaeleer und Terreille gewonnen, und beide Reiche wären zu dem Albtraum geworden, zu dem Terreille viele Jahre später tatsächlich werden sollte.« Lucivar trank einen Schluck Yarbarah als persönliche Ehrbezeigung für die gefallenen Krieger. »Ich werde also nicht fragen, warum du an dem Tag dort gewesen bist. Aber ich danke dir, dass du dort gewesen bist – und dass du den einen vorsichtigen Schritt vom Blutrausch entfernt gestanden hast.«
Sie sahen einander an und wussten beide, dass inmitten des Schweigens der Verrat eines Mannes an sich selbst zwischen ihnen hing – und ein Geheimnis, das ein Geheimnis bleiben
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