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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Der Vater schien ein nicht ganz erfolgloses Gewerbe zu besitzen, ohne den Reichtum der alteingesessenen Familien zu erreichen: Er und die Kinder waren elegant, aber nicht pompös gekleidet. Er hatte ein langes, blasses Gesicht mit tiefen Schatten unter den Augen und ließ sich von einem kleinen Mädchen beinahe teilnahmslos an der Hand mitführen. Den Abschluss bildete eine rundliche ältere Frau, die einen eingewickelten Säugling auf dem Arm wiegte und dem Kind mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem Geschehen um sich herum. Ein paar von den Umstehenden schienen ihn zu kennen, denn ihre Gesichter nahmen einen mitleidigen Ausdruck an, und sie machten ihm Platz. Zwei oder drei Männer schlugen ihm auf die Schulter und schüttelten ihm die freie Hand; er ließ es nickend über sich ergehen, ohne den Eindruck zu erwecken, dass ihm wirklich bewusst war, wer zu ihm sprach. In der aufgekratzten Menge hinterließ er eine Spur aus düsterer Verzweiflung und teilnahmsvollen Blicken und Getuschel.
    Ich hatte in den Jahren nach Marias Tod mein eigenes Gesicht zu oft betrachtet, um nicht lesen zu können, was in seinem geschrieben stand. Der Säugling, den die Amme in ihren Armen trug, war vielleicht sechs Wochen alt; seine Mutter war nicht ganz so lange unter der Erde. Von acht Kindern erreichten mit viel Glück drei das Erwachsenenalter; von drei Müttern, die die Kinder auf die Welt brachten, bezahlte es mindestens eine mit dem Leben. Es war der Lauf der Dinge und von Gott so vorgezeichnet. Ich hatte Glück gehabt, was das Überleben meiner Kinder betraf, ich hatte sie nur aus den Augen verloren statt an den Tod; ich fühlte deshalb keine Dankbarkeit gegen Gott.
    Der Witwer ließ sich von seiner kleinen Tochter an einen freien Platz führen; sie streckte die Arme aus, und er hob sie auf seine Schultern, ohne ein Lächeln zu verlieren oder das Gesicht zu verziehen, als sie sich einen unsicheren Moment lang an seinen Haaren festhielt. Sein Schmerz saß tiefer, als dass ihn ein Zerren an seinen Haaren daraus aufgeweckt hätte – oder das um Aufmerksamkeit bittende Gesicht eines seiner Kinder. Er war etwa so groß wie ich und ähnlich gebaut, ein breitschultriger Mann, der bei weniger Bewegung zum Dickwerden neigte. Er hätte ich sein können. Er war ich vor zehn Jahren. Mich überfiel die albtraumhafte Vision, dass auch ich in sieben Monaten wieder so sein würde. Mir wurde übel vor Angst. Ich kämpfte mich aus der Menge heraus und schritt in die Dunkelheit hinein, in der sich die Riva degli Schiavoni befand, und ich brauchte meine ganze Kraft, um nicht einfach kopflos davonzurennen.

10
    Die Schiffe, die entlang des Sklavenkais vertäut lagen, waren dunkle, wuchtig aufragende Schatten gegen den noch immer leicht erhellten Nachthimmel; auf San Giorgio Maggiore, der kleinen Insel gegenüber im Kanal, blinkten Fackeln und ließen die Gebäude wie auf einem goldenen Feuerschein schweben. Auf den Schiffen befanden sich Wachen, deren Aufmerksamkeit sich aber auf die Piazzetta konzentrierte; die Hühnerleitern, die zu ihnen auf das Deck führten, waren eingezogen. Wenn das Feuerwerk losging, würden die Wachhabenden dem Kai die Rücken zuwenden und das Schauspiel auf San Giorgio Maggiore betrachten; die hohen Wände der dickbauchigen Handelsschiffe würden dennoch ohne die Leitern so uneinnehmbar sein wie Festungsmauern. Ich nahm an, dass auf den Kriegsgaleeren, die näher beim Arsenal lagen, eine andere Zucht herrschte.
    Lediglich eines der Schiffe, eine alte hochbordige Kogge, die aussah, als sei sie vor kurzem den ganzen Weg von den Hansestädten bis hierher gesegelt, ohne irgendwo anzuhalten – und als sei sie schon bei der Abfahrt überholungsbedürftig gewesen –, schien stärker bewacht zu werden. Zwei Männer beugten sich über die Reling und leuchteten mit Fackeln zum Pflaster hinunter, zu einem dritten Mann, der bewegungslos im Schein der Flammen stand. Offensichtlich jemand, der versucht hatte, an Bord zu kommen, und den die Wachen nicht gewähren ließen, bevor sie die Erlaubnis des Kommandanten eingeholt hatten. Diese ließ auf sich warten, vielleicht war der Kommandant der Kogge nicht an Bord, und der Mann würde bis nach dem Feuerwerk warten müssen. Aber wie ich wusste, hatte er die nötige Geduld dazu. Es war Paolo Calendar.
    Ich blieb auf den dem Schiff abgewandten Stufen einer Brücke über einen rio stehen und spähte über die erhöhte Trittfläche hinweg. Calendar tat, als würde er die Wachen zwei

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