Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
auch für Abtreibungen genutzt: Frauen setzten sich in eine Badewanne und legten sich den »Waschbär« auf den Bauch. Frau Ludwig hatte rote Zehennägel und einen schwarzen Trabant P 600, den wir Kinder »Kohlenkasten« tauften. Es gehörte zu den schönsten Wochenendfreuden, wenn mein Bruder und ich morgens ins elterliche Bett schlüpfen durften und Vater mit uns »Frau Ludwigs Trabant« spielte: Er, für den wir nach einer arbeitsreichen Woche gewiß eine wahre Plage waren, auf allen vieren, wir auf seinem Rücken, wo er uns, begleitet von schrecklichem Auspuffgegrunz, Heul- und Knatterlauten, hin und her zu schleudern begann. (Auch bei meinem Sohn ein sehr beliebtes Spiel.) In einer der heruntergekommenen Villen in der Nähe des Waldparks hauste Herr Löwe, der sich Stadtbriefschreiber nannte und »ein glücklicher Mensch« war: so unterzeichnete er seine Betrachtungen, die in keiner Zeitung erschienen, sondern beim Kostümverleih Tille, bei Evana Mieder auf dem Weißen Hirsch oder bei Schirm-Dunger am Schillerplatz in den Schaufenstern lagen. Alle diese Geschäfte gibt es, wenn auch unter anderen Betreibern, heute noch – und manchmal denke ich, es hat mit Herrn Löwes Stadtbriefen zu tun. Das Brautmodengeschäft, in dem Herr Löwe arbeitete, gibt es nicht mehr. Man ging dorthin »bei Liebig«, wie es nach einem früheren Besitzer salopp genannt wurde; der Spottmund hatte »Beliebig« daraus geformt, was Herrn Löwes und anderer Mitarbeiter Bemühungen nicht gerecht wurde. Die Villa des Herrn Löwe hatte ein kaputtes Dach, aus dem Birkenreiser sprossen, und zerbrochene Fensterscheiben im Parterre, gegen die eine überforderte und planabhängige Kommunale Wohnungsverwaltung nichts tun konnte – erst als des lokalen Glasermeisters Tochter heiratete und man »Beliebig ging«, kamen Glück und Glas zusammen und blieben, was die Fensterscheiben betraf, unzerbrochen. Herr Löwe wohnte in dem Haus, das voller Stuck und wäßrig verblaßter Malereien war,nicht einmal parterre, sondern im Souterrain – eine erstaunliche Angelegenheit für die Bande, zu der ich gehörte und deren Ataman der aufgeschossene Hans war, Sohn des Bildhauers und Mitarbeiters im Defa-Trickfilmstudio, Kazzer, und seiner sanften Frau, die »nichts übers Herz brachte«, da sie uns Kinder zärtlich liebte. Souterrain, gesprochen »Su-träng«, dort gab es sonst nur Keller, wieso hatte Herr Löwe in einem Keller eine Wohnung? Da mußte es doch feucht sein? Es war feucht; die Kriegstuberkulose brach bei Herrn Löwe immer wieder aus, dann hörte man ihn schon von weitem husten, alle machten einen Bogen um ihn. Er kam in ein Isolierzimmer im Krankenhaus, und wenn er wieder entlassen worden war, rief er schon von weitem: »Ihr müßt mich nich’ mehr meiden, ’s is’ wieder gut!« Su-träng. Dort mußte es doch kalt sein? Es war kalt; selbst im Sommer, wenn im Waldpark die Eis- und Limonadenverkäufer ihre Stände öffneten, sahen wir, die durch eins der verstaubten, das Bodenniveau gerade erreichenden Fenster hinab in die geheimnisvolle Wohnhöhle spähten, Herrn Löwe in Schal und Mantel am Tisch sitzen. Oft trug er Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingerspitzen. Er las, den Kopf nah am Buch, die Stirn in eine Hand vergraben, oder brütete über dem Kreuzworträtsel der »Wochenpost«, zu deren glücklichen Abonnenten er dank verwandtschaftlicher Beziehungen zum Postzeitungsvertrieb gehörte. Die Entwürfe für seine Stadtbriefe schrieb er auf einer »Erika« der Dresdner Schreib- und Nähmaschinenfabrik Seidel & Naumann; die gültigen Briefe auf Karteikarten per Hand, in schwungvollen, geübten Schnörkeln, um Leserlichkeit bemüht wie Kinderschrift. Er schrieb über Gerüche, die ihm für das Viertel und die Stadt charakteristisch schienen, über das Morgenlicht an einem verlassenen Uferabschnitt der Elbe bei Söbrigen, über Laubfarben, das Pferdefuhrwerk, das mit Glockengeschrill Eisblöcke für die Kühlschränke anbot, die noch nicht elektrisch betrieben wurden; über den Laternenmann, der allabendlich die Blasewitz-Striesener Gaslaternen entzündete, indem er von seinem Fahrrad eine Hakenstange nahm und an der im Laternenkopf befindlichen Drahtschlinge zog; er schrieb über Marabu Fine, die mürrisch in der Adlervoliere des Dresdner Zoos hockte und ein Bild des Grams und des Starrsinns gab, »als wäre sie eine unter die Betonbauer geratene,ihre grundsätzliche Liebenswürdigkeit von den Realitäten erpreßt wissende
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