Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
Architekturkritikerin«.
Nach einem Brief über »Blaueimer«, eine ältere Bewohnerin des Senfbüchsenviertels an der Wieckstraße, wo sich das Kultur- und BuchHaus Loschwitz befindet, wurde Tibor von Urvasi aufmerksam. Daß Blaueimer den Müll ihres Haushalts, in dem sie mit ihrer hochbetagten Mutter lebte, nur in blauen Eimern wegtrug, genügte nicht, das Unbesiegbare aus diesem etwas despektierlichen Spitznamen zu vertreiben; Herr Löwe schrieb, daß er sich von einer Dame bisher unzureichende Vorstellungen gemacht habe. Blaueimer war eine Instanz, denn sie betrieb eine Laufmaschenreparatur, eines der hierzulande inzwischen untergegangenen, undenkbaren, einst alltags- und damit überlebenswichtigen Biotope. Was tat man in einer Laufmaschenreparatur? Man war sich nicht zu schade, mit einer Repassiernadel dem Auge zu helfen – und sich der Tatsache zu beugen, daß Überfluß Luxus und selten von Dauer ist. Der Damenstrumpf mit der Laufmasche wurde über einen Metalltrichter gestülpt, die Repassiernadel in eine Masche entlang der Laufmasche eingehängt, ein Schlauch preßte Luft in die Nadelzunge, die in druckvoller Kürze hin- und hersurrte und die fehlenden Maschen ersetzte. Kompressionsstrümpfe mußten mit der Hand bearbeitet werden, sie waren zu dick für die feinen Nadeln. Herr Löwe wußte, daß die Philosophie der Reparatur das Geheimnis von Dresden streift, das, verstört von der unablässigen allgemeinen Wanderschaft, zum Bleiben einlädt. Weswegen der gedeckte Kaffeetisch mit seinem Verweis auf langes Sitzen eines der Wahrzeichen der Stadt ist. Eine Laufmaschenreparatur war mehr als ein den Notständen geschuldeter Dienst. Es war eine Filiale des Amts zur Wiederherstellung der Schönheit. Blaueimer arbeitete am Frieden mit den zartesten, gewöhnlichsten Dingen, die in Kriegs- und Mangelzeiten als erste fehlen.
Tibor von Urvasi, Vorsitzender der Quitten-Gesellschaft, betrat das Brautmodengeschäft und bat um Herrn Löwes Adresse. Die Quitten-Gesellschaft hatte sich der Pflege wenig beachteter, im englischen Sinn exzentrischer Angelegenheiten verschrieben; Urvasi beispielsweise arbeitete seit Jahren an einem Aufsatz über Mörtel, den er zusammen mit zwei fertigen über Plaste und über Zement zu einer neuen, mehr subversiven Trilogie der Leidenschaft zu bündeln beabsichtigte. Musikkritiker Däne referierte über »Die Reize des Gerade-Noch«. Die »Quittung«, das Periodikum der Gesellschaft, an allen Druckgenehmigungen vorbei in bis zu sieben Schreibmaschinen-Durchschlägen verfertigt, lag in Urvasis Wohnung neben der Standseilbahn aus; das mit einer Veritas-Nähmaschine gegarnte Heft enthielt Reiseberichte, Glossen über Erlebnisse an bulgarischen Busendhaltestellen, Typologien von Dresdner Katzen und Pferderennbahnbesuchern, Feuilletons über Fliegenfischen. Für neue Mitglieder war eine Bemerkung über die namengebende Frucht der Gesellschaft obligatorisch. Während der Aufnahmezeremonie in Urvasis Garten setzte Herr Löwe ein Quittenbäumchen und trug unter den gelben Tüpfelschatten einer prachtvoll gewachsenen Konstantinopler Apfelquitte seine Einstandsschrift vor: »Betrachtung über die Vernachlässigung mit besonderer Berücksichtigung des Souterrains«, obwohl Urvasi nach seinem Besuch »bei Liebig« sich einen Brief über Schwiegermütter gewünscht hatte.
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Herr Jakob, genannt Karajan vom Schillerplatz, hob den Stab, ließ ihn exakt über dem Scheitel der Mütze verharren, zypressengerade stach er in die von Abgasen und Straßenstaub verschmutzte, von Oberleitungen vergitterte Luft –
Dresden ist eine doppelte Stadt, Schiller- und Körnerplatz suchen die Balance an einer begehbaren Waage namens Blaues Wunder. Die Elbe, mit Beginn der warmen Jahreszeit ein lesender, wie auf Kugellagern gleitender Fluß, überkreuzt vom diplomatischen Corps der Fähren, ist zu breit, um Alt- und Neustadt zu verbinden. So kommt es, daß die so wenig selbstgefällige Stille der Blasewitzer Seitenstraßen, die pompösen, aber hilflos wie auf Sandbänken liegengebliebenen Villen mitihren noblen Sanktionen gegen »das Offizielle« nur selten die Häuser der anderen Elbseite besuchen, die sich vor dem Traum des Flusses abendlich zu sammeln scheinen, bis er sie und ihre absichtslose kleine Reise, ganz aus dem Augenblick und der Daseinsfreude improvisiert, mit der Geruhsamkeit einer väterlichen Hand auf seine Decks bittet. Der Weg eines Kindes, die Linien einer Schwimmerin, die betuchte Siesta einer Buchecker
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