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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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unsichtbar durch die glatte Fläche zu sprießen und, ausgestattet mit Saugnäpfen und Sinnesorganen, in den Wohnungen umherzukriechen, mir Wissen zu verschaffen; besonders angstversengt an der Tür von Herrn W., genannt »Graf Etepetete«, von dem gemunkelt wurde, daß er »bei der Firma« sei; weder meine Freunde noch ich durften mit ihm sprechen. Nach einiger Zeit übermittelten die Fingerspitzen feines Vibrieren, ich stellte mir vor, daß die Treppenstufen all die Schritte abschüttelten, die Tag und Nacht an ihnen wetzten, ihnen, als wären sie eine Haut, Tritte versetzten, und obwohl das Unruhesummen, das durch meine Nerven kroch, am ehesten aus meiner eigenen Körperschwäche (Hunger, angehaltener Atem in unbequemer Haltung) rühren mochte, glaubte ich – Vorstellung ist stärker als Wissen, das ein Kind nicht als einleuchtendes Bild erreicht – an Schleudern, Waschmaschinen, die sich verselbständigten, weil ihre Schläuche aus den Wänden anderes beziehen mochten, als die arglosen Mieter dachten. Ich glaubte an ein Maschinengehirn, das irgendwo, getarnt von Feuerlöschern, Müllschluckern, Aufrufen der Hausgemeinschaftsleitung, vor sich hin sinnierte, und befürchtete, ich sei durch meinen Griff an eine Tür, eine Kontaktstelle, zum unbefugten Zeugen seiner selbstbewußten Elektrizität geworden, die in Ruhe Anwesenheitskontrollen vornahm. Ein stiller, mit Bedacht seine Position verbessernder Apparat: welche? und wofür? das machte mir Kopfzerbrechen, ich zog die Hand von der Tür weg, man konnte nicht wissen, es war besser, die anderen zu informieren, um sie bei der Erkundung dabeizuhaben. Sie geschah unter der Voraussetzung, daß die von mir unbezweifelte Existenz des Blockgehirns nichts Gutes bedeutete. Zu deutlich waren die Hinweise. Rauhe, nur hier und dort mit trauriger Tapete befleckte Wände, an denen wir, wären sie uns zugänglich gewesen, jene Schwefelhölzer aus Westernfilmen hätten aufflammen lassen können, die den Helden dazu dienten, ihre stoische Lebensauffassung mit einem Strich über den Stiefelabsatz oder die Schurkenschulter zu beweisen. Daß der Block eine Schlaf- und eine Wohnseite besaß, zwei gleiche Fassadengesichter mit unterschiedlicher Kriegsbemalung, wie Mutter sagte. Die Einsamkeit eines Fenstergriffs im Flur von unserer Etage zum Nachbaraufgang: Die Reihe schwarzer T-förmiger Pflöcke in Scheibenmitte unterbrach ein hellgrauer Plastwinkel, den Herr Adam dort angeschraubt hatte,um, wie er sagte, in einem Akt der Notwehr die endlos von Horizont zu Horizont, von der Ostsee bis ans Ochotskische Meer, kopierte Fortsetzung schwarzer Duroplast-Fenstergriffe auszusetzen. Aber ich blieb mißtrauisch. Vielleicht stimmte es nicht, daß irgendwo in dieser Zitadelle aus Beton und Teer eine Instanz damit beschäftigt war, uns zu schaden. Tom meinte ohnehin, ich sei nicht ganz richtig, und wollte lieber Fußball spielen, als nach etwas zu suchen, das unmöglich existieren konnte. Ich hatte mit Tom meinen ersten Kuß getauscht, eine eklig schmatzende Angelegenheit zwischen zwei nach Schaumgummi-Kosmonauten schmeckenden Lippenpaaren, besiegelt in den Bunkern aus Röhren und Wandteilen, die sich auf einer Brache neben dem Johannstädter Plattenwerk stapelten. Das Wort Schönheit kannten wir, aber es bedeutete uns nichts – ein Erwachsenenwort, das uns ohne Widerstand oder Bedauern aus den Ohren sickerte. Ohne es zu wissen, suchten wir allerdings danach, was das Wort mit seiner Lauthülle verdeckte. Anders kann ich mir nicht erklären, daß Ulrike meinen Einflüsterungen traute und Tom den Vogel aus der Stirn bog, den er mir zeigte; Ulrike mit dem Komsomolzen-Schleifenschmetterling im Haar, was ihr Gesicht auf eine schreiende, kokett überblühte Weise »süß« werden ließ. Sie konnte die Schritte auseinanderhalten: die klumpigen der Nachbarn aus der siebenten Etage bildeten den Klub der Gehörlosen, die ausgerechnet im Treppenschacht – für mich einer der steinernen Ohrschläuche des Blockgeists – Lärm wie eine Horde von Paarhufern machten; das müde Schlurfen von Herrn Adam, der im Sachsenwerk als Mechaniker arbeitete und die Wohnung für sich und seine Familie nur unter der Bedingung erhalten hatte, jeden Sonnabend Aufbaustunden im Schlachthof abzuleisten (er würde das für viele Jahre tun müssen); es gab die Puderzuckerschritte des Herrn Ofenstein, für den wir später, in Analogie zu »Fräulein«, die Anrede »Herrlein« erfanden, denn mit knabenschlankem Körper arbeitete er

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