Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
schließlich und endlich müsse man doch für die Damen spielen, sagte Herr Schurich, auf weichen Mollsohlen aneinandergeraten, damit es dann in Dur zum Tanz gehen könne; der gute Barpianist weiß, wann er abzugeben und sich zurückzuziehen hat, wie der gute Mittelfeldspieler beim Fußball, sagte Herr Schurich; er baute ein Klavier aus Sand, gemeinsam mit Herrn Adam, dem Bezweifler der Fenstergriffe, baute es im Freien auf der morastigen Brache hinter dem Block, und da stand es, das Sandklavier, ragte unbezwingbar stolz in den viereckig beschnittenen Himmel der Plattenbausiedlung, hielt aus und blieb Mahnmal, der Regen wird es härten, denn ihr sollt nicht vergessen, sagte Herr Schurich)
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… wobei diese »Mitteilungen« in unverbindliche, etüdenhafte Demut zurücksanken, sobald Adolzaide in die Wildnis der Chopinschen Nocturnes geriet. Sie arbeitete mit geschlossenen Augen, doch ihre Hände gingen wie zwei Komplotte spazieren, die im Interesse eines dritten ihr Wissen austauschen. Mit viel Mühe hatte Herr Schurich Rolläden an Adolzaides Fenstern angebracht, so daß sie sich an Sommertagen abwechselnd durch schneeige und Schattenstreifen bewegen konnte und auch ihren Schülern eine fein zerschnittene Würde ermöglichte, in der sie die Körper zwischen Tastatur und Pedal mit Klang zu verbinden versuchten. Die Donnerstagsstücke änderten sich nach Jahreszeit, manchmal lag Adolzaides Mutter krank oder sandte störrische, mit der Nähmaschine verfaßte Verrisse aus der Filzschuhkammer, manchmal war Herr Schurich nicht in Stimmung, manchmal Adolzaide; gleich blieb der Wurf ihres Schultertuchs im Winter, eine beredte Geste: Ach, ihr Phantasien, kommt, laßt uns gemeinsam schweifen, ich gebe euch meine Hände, tauche sie durch Musik bis zu euch, und ihr faßt sie wie ein kraftvoller Eistänzer seine Partnerin, ich wirbele herum, aber er läßt mich nicht los, das ist beglückend, vertrauenweckend, unvorsichtig gesprochen: selig … Adolzaide fuhr stundenlang mit Herrn Schurich in dessen Saporoshez herum, sie besaß kein Auto, und es gab für manchen Einkauf weite Wege, einmal blieben Adolzaide und Herr Schurichmitten auf der Kreuzung vor dem Block stehen, um eingeklemmt im schnell erhitzten Blechgehäuse über Jazz zu streiten, sie kauften nichts ein, es gab plötzlich so vieles zu bereden; sie heirateten, nach langen Auseinandersetzungen mit der Standesbeamtin, in Schwarz (sie) und Weiß (er), als die Mutter gestorben war; sie hatte bei Brautmoden-Liebig den Stoff für das Hochzeitskleid ihrer Tochter seit zwanzig Jahren reservieren lassen gegen monatliche Gebühr.
Prager Straße 2010
All dies geschah im seltsamen, laugenartigen Fluid aus Höhlenlockung, glatt fluchtenden Gängen, die ihre Vorratskammerklinken gnadenloser Langeweile überließen, dem Nachhall entfernt zuschlagender Türen, ein Fluid, in dem meine Erinnerungen allmählich ausklaren, Kristalle in Schönwetterwellen (es stimmt nicht, und doch … die Käfige der Erwachsenenwelt waren noch zu groß für uns) an flachen, warmen Stränden der Kindheit, die vom Magneten der Tiefe schon entkräftet werden; eine Sekunde zurück beginnt der Mahlstrom Vergangenheit, in den alles fällt und fällt.
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Für ein Stadtkind war eine Straßenbahnfahrt schon eine Reise. Eine Fahrt für Erwachsene – Streifen weiß mit rotem Pfeil – kostete 17 Pfennig, eine für Kinder – Streifen rot mit weißem Pfeil – 8; man konnte so lange fahren, wie man wollte oder bis man etwas Interessantes entdeckt hatte. Luxemburgstraße, Dimitroffbrücke, Ernst-Thälmann-Straße, Fetscherstraße, Trinitatisfriedhof, an der Medizinischen Akademie vorbei nach Blasewitz mit seinen malerischen Villen, dem Waldpark mit gleichnamigem Hotel, Sommer- und Wintervergnügungen, Herren mit Baskenmützen, die dem Kostümverleih Tille entstiegen sein mochten, Duft nach Mottenkugeln schien hinter ihren Schlittschuhbahnen herzuwehen, vermischt mit den Aromen von Nachkrieg und Denkmalschutz. Ein tümpelgrüner Citroën verstaubte mit platten Hinterreifen unter dem Platanengewölbe am Friedensplatz.Kazzers wohnten Lene-Glatzer-Straße, II. Stock, statt einer Tür gab es einen Vorhang. Herr Opitz pflegte ein Stachelbeergärtchen und zwei Fernseher, einer zeigte in Farbe; Frau Opitz besaß einen Schallwäscher, wegen seines Brummgeräuschs »Waschbär« genannt, den sie in einen Zuber mit Lauge und Wäsche hängte, der Schmutz wurde durch die Schallwellen aus den Fasern gelöst. Das Gerät wurde
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