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Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Titel: Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn
Autoren: Colin Dexter
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ersten, zweiten, dritten Korrekturexemplaren für das Fach Englisch in den O-Levels enthielten. »Da könnte ich ja selber rasch noch zu einem guten Abschluß kommen, Sir.«
    Morse murmelte etwas davon, daß die Fragen das Papier nicht wert seien, auf dem sie gedruckt waren, und setzte die einigermaßen lustlose Durchsicht von Quinns oberstem Schubfach fort. Welterschütternde Entdeckungen waren da nicht zu erwarten: Büroklammern, Heftstreifen, Gummibänder, vier Feinstrich-Kugelschreiber, ein Lineal, eine Schere, zwei Geburtstagskarten (»Viele liebe Grüße, Monica« – schau einer an …), eine Schachtel gelber Bleistifte, ein Bleistiftspitzer, etliche Briefe der Universitätskasse, die Übernahme von Rentenansprüchen durch das hochschuleigene Pensionssystem betreffend, ein Brief vom Zentrum für Gehörlose mit der Mitteilung, daß der Unterricht in Zukunft nicht mehr in Oxpens, sondern an der Headington Tech stattfinden würde. Morse stocherte noch eine Weile aufs Geratewohl herum, dann drehte er sich um und besah sich die Büchersammlung. Ihm gegenüber waren die Autoren mit M. Er griff nach Marvells Gesammelten Gedichten. Als habe kürzlich jemand an derselben Stelle herumgelesen, öffnete sich das Buch von selbst bei dem Gedicht »An seine spröde Geliebte«, und Morse las erneut die Zeilen, die mittlerweile schon länger, als ihm lieb war, zu seinem geistigen Gepäck gehörten:
     
    »Gar fein und still ist es am Grabesort,
    doch gibt es, glaub ich, keine heiße Liebe dort.«
     
    Ja, Quinn lag im Leichenschauhaus, und auch Quinn hatte Hoffnungen und Träume gehabt, wie jeder Sterbliche. Er schob das Buch in die Lücke zurück und wandte sich ziemlich ernüchtert dem zweiten Schubfach zu.
    Sie arbeiteten eine Dreiviertelstunde schweigend, und Lewis wurde zunehmend deprimierter. »Glauben Sie wirklich, daß sich das hier lohnt, Sir?«
    »Wieso? Haben Sie Durst?«
    »Ich weiß einfach nicht, wonach ich suchen soll.«
    Morse schwieg, und da sagte auch Lewis nichts mehr.
    Um sieben war Lewis mit dem zweiten Schrank fertig. Er schloß den dritten auf, griff sich wieder einen Armvoll dicker Mappen und machte sich erneut ans Werk. Der erste Ordner enthielt Kopien von Briefen über einen Zeitraum von zwei Jahren, alle mit dem Zeichen GB / MF, sowie die Antworten von Mitgliedern des Englisch-Ausschusses mit der Anrede »Lieber George«.
    »Das muß Quinns Vorgänger gewesen sein, Sir.«
    Morse nickte beiläufig und machte sich wieder über den schwarzen Schreibtischkalender her, den einzigen Gegenstand, der auch nur andeutungsweise interessant zu werden versprach. Doch Quinn hatte offenbar nicht den Ehrgeiz gehabt, es Evelyn oder Pepys gleichzutun; außer Datum und Uhrzeit verschiedener Sitzungen fand sich kaum eine persönliche Eintragung. »Geburtstag« (unter dem 23. Oktober) und »Ein Pfund an Donald zurück« schienen die einzigen Zugeständnisse an eine ansonsten außerordentlich schwach entwickelte autobiographische Ader zu sein. Weil ihm nichts Besseres einfiel, zählte Morse müßig die Sitzungen. Es waren zehn innerhalb von zwölf Wochen, fast alle zur Überarbeitung von Prüfungsbögen. Keine schlechte Leistung. Dazu kam noch eine Besprechung mit dem Englisch-Ausschuß am 30. September und eine zweitätige Sitzung mit EMA am 4. und 5. November.
    »Was verbirgt sich hinter EMA, Lewis?«
    »Keine Ahnung.«
    »Raten Sie doch mal.«
    »Elternverband minderbemittelter Analphabetenkinder.«
    Morse griente und klappte den Kalender zu. »Sind Sie bald durch?«
    »Noch zwei Fächer.«
    »Bringt das noch was?«
    »Dann habe ich es wenigstens hinter mir.«
    »Okay.« Morse lehnte sich in dem Sessel zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und sah sich noch einmal um. Mit einem Paukenschlag hatten die Ermittlungen nicht gerade begonnen, aber sie standen ja auch noch ganz am Anfang. Er würde zwischendurch mal im Präsidium anrufen. Der graue Apparat schien der für Amtsgespräche zu sein. Morse zog ihn zu sich heran. Aber er hatte kaum nach dem Hörer gegriffen, als er schon wieder auflegte. Unter dem orangefarbenen Postleitzahlenverzeichnis lag ein Brief, der seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war. Er kam von der Frederic Delius School, Bradford, und war vom Montag, dem 17. November.
     
    »Lieber Nick,
    vergiß mich nicht, wenn Du Deine Prüfungsteams fürs nächste Jahr zusammenstellst. Das Formular ist wohl inzwischen wieder bei Dir gelandet. Gryce wollte mit der Referenz erst nicht so recht
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