Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
einquetschten, dass sie allmählich taub wurden. Doch das war mir egal, denn ich war völlig gebannt von der fremden Welt, die ich da vor mir sah.
Überall am Strand standen im silbrigen Mondlicht die Schatten und Körper von Menschen: ein übernatürlicher Anblick. Kinderstimmen schwebten übers Wasser, Rufe so aus ganzem Herzen voller Freude, dass mir der Gedanke kam, das sei der Klang des Himmels. Sadie stand neben mir und erklärte mir mit Lachen und Worten, wie man Schollen aufspießt und die Krabben, die mir über die Füße krabbelten, im Netz fängt. Die Kühlbox hinter uns sank vom Gewicht unserer Beute immer tiefer in
»Was ist hier los?«, fragte ich.
»Die ganzen Fische und Krabben kommen hoch, weil sie Luft zum Atmen brauchen. Aus irgendwelchen komplizierten wissenschaftlichen Gründen sinkt der Sauerstoffgehalt am Boden zu sehr ab, und alles schwimmt nach oben.«
Meine Augen hatten sich mittlerweile ans Licht gewöhnt. Als ich sah, in welcher Fülle das Meer sein Opfer darbrachte, meinte ich zu träumen. Schollen schwammen übereinander, als wollten sie an den Pfählen des Stegs hochkriechen. Krebse krabbelten zum Teil in Dreierreihen auf das Ufer zu. Durchsichtige Krabben schossen in Panik an die Oberfläche. Keiner nahm Rücksicht auf die anderen. Jedes Einzelne dieser Wesen rang nach Luft und war nur noch darauf aus, seinem nassen Lebensraum zu entkommen.
»Sie brauchen Luft zum Atmen«, sagte ich. »Die armen Viecher, völlig panisch.«
Sadie flüsterte im Dunkeln. »Los. Wir nehmen nur so viel, wie Birdie essen und einfrieren kann, nur die Kühlbox voll.«
»Weißt du was?«, sagte ich. »Als wir von Mobile herübergefahren sind, ist mir aufgefallen, dass viele Läden Jubilee soundso oder dies oder das hießen. Jetzt begreife ich, warum.« Ich stand still und schweigend da.
Sadie stupste mich an. »Los, altes Mädchen, was stehst du da rum?«
»Ich kann es nicht fassen …«
»Es ist überwältigend, bis man einfach mitmacht. Ein Geschenk der Natur. Das muss man nicht verstehen. Beweg dich. Man weiß nie, wann es vorbei ist oder das nächste Mal kommt. Man muss zugreifen, solange es geht.«
Ich watete tiefer ins Wasser hinein und bestaunte dasWunder: Fische schossen an die Oberfläche, um sich fangen zu lassen. Die Schuppen der Schollen reflektierten den Schein der Taschenlampen; das Gelächter von Menschen, die sich fremd und doch verbunden waren, schallte über das Wasser. Es gab keinen Konkurrenzkampf, es war genug für alle da. Mehr als genug. Sogar die Menschen am Rande des Wassers konnten nicht alles fangen oder halten, was da hochkam.
Ein Teenagerpärchen stieß mit mir zusammen, das Mädchen kreischte, als der Junge befahl: »Spieß sie auf, stoß einfach zu. Du schaffst das.« Sie versuchte es, lachte und hielt sich gleichzeitig an ihm fest. Ich beugte mich vor, spießte eine Scholle auf, hob sie hoch und starrte sie an. Ich berührte die Schuppen, das Leben wand sich unter meinen Fingern.
Sadie und ich fingen Krebse mit dem Netz und schrien und zogen an dem einen, der sich am Saum ihres T-Shirts festgeklammert hatte. Ich streckte die Hand übers Wasser aus und hielt inne.
»Was ist?«, fragte sie.
»Das Wasser«, sagte ich. »Sieh mal. Es reflektiert das Licht nicht, es ist das Licht. Treibendes Licht. Wasserlicht.«
Der Krebs ließ los, fiel vor unsere Füße und krabbelte tiefer in die Bucht hinein, für den Moment gerettet.
»Stimmt«, sagte sie. »Du hast recht.« Sie tauchte die Hand ins Wasser und ließ das Licht durch ihre Finger rinnen, auf ihr Shirt und ihre Shorts tropfen. »Wow.«
»Ist das die Wirklichkeit?«, fragte ich.
»Natürlich.«
»Es fühlt sich nach mehr an, nach mehr als Wirklichkeit. Das Leben wird danach nicht mehr sein wie zuvor.«Ich stockte kurz und fuhr dann fort: »Weißt du, Mutter hat darüber geschrieben.«
»Über dich?«
»Nein, über ein Jubilee. Ich hatte keine Ahnung, was sie eigentlich meinte – sie sah es als Omen für ihren Neuanfang, für ein neues Leben. Dass sie für alle Zeiten mit dem Mann, den sie liebte, zusammen sein würde. Es war ihr gemeinsamer Anfang.«
»Genau das ist ein Jubilee. Mom kann dir mehr darüber sagen, aber es hat mit Loslassen und Vergeben zu tun.«
Aus der Tiefe der Bucht stieg süßer Salzgeruch an die Oberfläche, wir atmeten ein, was den Augen verborgen war. Inmitten von Fischen, Krebsen und Krabben im Wasser stehend, spürte ich plötzlich eine Präsenz, die vorher noch nicht da gewesen war,
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