Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
hindurchströmen, aus mir heraus in die Bucht fließen, die mehr Licht als Wasser war.
So war es beim Jubilee: Leute kamen, trafen sich, gingen ins Wasser und verschwanden wieder. Man spürte sie nicht kommen, man sah sie nicht gehen. Ein Fremder wurde zu einem Freund und verschwand. Sadie und ich saßen im seichten Wasser auf der Kühlbox und gaben uns keine Mühe mehr, trocken zu bleiben.
»Ich habe das Gefühl, Teil der Bucht zu sein«, sagte ich leise flüsternd.
»Sind wir auch. Heute Nacht sind wir das.« Sadie ließ ihre Finger über das Wasser gleiten, Krabben schossen in alle Richtungen davon.
In manchen, wenigen Nächten verschieben sich die Orte und Räume eines Lebens, das Muster löst sich auf und setzt sich in dem Bruchteil von Zeit zwischen Augenblicken, zwischen Sekunden neu zusammen. Menschentreten neu oder wieder in dein Leben, sie berühren dich oder lachen mit dir inmitten eines Jubilee, inmitten dieser Gabe der Natur, so dass dein Leben nicht mehr dasselbe ist, selbst wenn du es wolltest.
den Sand.
Aus Lillian Ashfords Tagebuch
Silvester 1961
Einundzwanzig Jahre alt
Nach dem Jubilee war unsere Liebe stärker als alle Naturgewalten und überstieg menschliches Fassungsvermögen. Zumindest glaubte ich das. Wir schwammen im Meer oder saßen am Swimmingpool und tranken eiskalte Gin and Tonics mit Gurkenstückchen darin. Wir hielten Händchen und liebten uns – jedenfalls liebte ich Ihn. Was es für Ihn war, vermag ich jetzt nicht mehr zu sagen. Und das ist der traurige Teil. Jetzt, im Nachhinein, höre ich mich selbst immer von meiner Liebe zu Ihm sprechen, aber ich weiß, daß Er dieses Wort nie sagte: Liebe. Er sprach von »anbeten« oder sagte: »Was würde ich ohne dich machen?«, und nannte mich »beste Freundin«, aber nie, niemals sprach Er von Liebe. Wieso ist mir nie aufgefallen, dass Er dieses Wort nicht ein Mal benutzte?
Deswegen: Ich spürte Liebe in jeder Berührung, in jeder Bewegung, in jedem Blick. Er konnte keine Stunde ohne mich sein, fand mich am Strand oder am Eßtisch oder auf der hinteren Veranda des Sommerhauses. Unsere Haut war magnetisch aufgeladen und zog uns magisch zueinander, ob wir wollten oder nicht. Wie hätte das nicht Liebe sein können?
Wir saßen flüsternd in den dunklen Ecken von Bars und in geheimen Treffen der Bürgerrechtler, unsere Finger ineinander verschlungen, unsere Haut vor Verlangen feucht.
Ich möchte alles aufschreiben, was wir taten und sagten in diesem Sommer, aber ich kann es nicht – mein Herz erträgt es nicht, das zu schreiben, was nie wieder sein wird.
Was bedeutet, daß wir nun zu dem schlimmsten Teil des Jahres kommen – dem traurigen Teil – dem Teil, der an die Freude anschließt, eines folgt dem anderen.
E LF
D er Morgen kam wie ein leises Wispern, auf das Chaos des Jubilee folgten Ruhe und Klarheit. Die Sonne, die Wärme und das Wasser schickten wolkenhafte Schwaden aus weichem Licht über die Bucht und in den Garten mit den uralten, knorrigen Eichen. Der Tag stellte keine Erwartungen an mich, und so lief ich mit einer Tasse Kaffee in der Hand durch das Gras und öffnete das Gartentor mit dem in den Eisenbeschlag eingehämmerten Buchstaben W, in dessen Winkeln sich Moos und Blätter festgesetzt hatten. Meine Füße berührten den Holzsteg, den Stürme, Winde und viele Fußsohlen glattgescheuert hatten. Am Ende des Docks standen ein Grill, ein weißer Holztisch, vereinzelte Stühle und Laternen mit halb abgebrannten Kerzen.
Die Holzplanken vibrierten unter meinen Füßen. Als ich mich umdrehte, sah ich Sadie mit einer Kaffeetasse auf mich zukommen. Ich winkte mit der freien Hand. Sie kam zu mir und umarmte mich mit einem Arm, beide schwiegen wir. Ich setzte mich in die Hängeschaukel und klopfte auf den Platz neben mir.
Sie setzte sich, wir lauschten dem Wasser, dem Kreischen der Möwen, den Motorbooten, die wir hören, aber nicht sehen konnten. An der Wasseroberfläche trieben ein paar aufgeblähte Schollen, tote Krabben an den Rändern von Sand und Wasser, ein Krebs trieb mit der einsetzenden Ebbe aufs Meer hinaus – Überbleibsel des Jubilee. Schließlich sprach ich. »Danke«, sagte ich.
»Wofür?«
»Dass du mich hergebracht hast.«
»Gern geschehen. Bleib, so lange du willst. Mutter sagt, du kannst hundert Jahre bleiben.«
»Hmm … hundert Jahre. Ich glaube, das reicht nicht. Kannst du fragen, ob ich länger bleiben kann? Geht das?«
Sadie lachte leise, als ob unser Lachen ein Geheimnis wäre. Dann sah ich
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