Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
Birdie am Tor stehen. Ein beunruhigendes Gefühl, wie wenn man plötzlich merkt, dass einem ein Auto folgt oder das Telefon abgehört wird. Sie winkte, und wir liefen über den kopfsteingepflasterten Weg zurück zum Haus. Gras und Moos wuchsen zwischen den hervorstehenden Steinen und verankerten sie so fest in der Erde, als wären sie dort gewachsen. Schon jetzt war es unerträglich heiß, Schweiß rann mir unter meinem Top den Rücken hinunter.
Auf der Treppe lächelte uns Birdie von oben herab an. Ihre dunkelgrauen Haare, die sie schon seit Jahren nicht mehr färbte, wurden von einer Haarspange gehalten. Ihr ungeschminktes Gesicht verriet ihr Alter, ihr großes Herz zeigte sich in vielen Lachfältchen. »Frühstück ist fertig«, sagte sie zur Begrüßung.
»Oh, das hättest du nicht machen müssen«, sagte ich.
Sie lachte. »Natürlich nicht. Aber ich wollte. Und glaub ja nicht, dass ich das ab jetzt jeden Morgen mache.«
Wir betraten Birdies Küche – in der so viele verschiedene Nuancen von Gelb leuchteten, dass ich dachte, hier würde die Sonne wohnen. Die Arbeitsflächen glänzten in blassem Vanilleeisgelb, die Wände waren kanarienvogelfarben, die Schränke hellgelb. Der Geruch von Eiern, Würstchen und irgendetwas Scharfem – ich tippte auf Koriander – schwebte im Raum.
Birdie stellte Teller auf die Kücheninsel. »Schlagt zu.«
Mit randvollen Tellern setzten wir uns an den runden Glastisch in der Ecke.
»Bist du froh, dass du das ganze Jahr hier lebst?«, fragte ich.
»Ja. Ja, sehr. Weißt du, ich bin hergezogen, als Lyle gerade gestorben war.« Sie blickte ins Leere, in ihren Augen stiegen Tränen auf, die ebenso schnell wieder versiegten. »Er liebte dieses Haus, wollte aber nie ganz hier leben. Er war zu sehr verwoben mit der ganzen Atlanta-Welt.« Sie schwenkte die Hand. »Und, das Jubilee … hat es dir gefallen?«
»Es war unglaublich. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich habe so was noch nie gesehen«, sagte ich.
Birdie zog eine völlig überfüllte Schublade auf, es grenzte an ein Wunder, dass sie darin einen pinkfarbenen Notizblock fand, den sie auf den Küchentisch legte. Sie leckte das spitze Ende eines Bleistifts an (warum Leute das tun, bleibt mir ein Rätsel) und begann, eine Liste zu schreiben. Ich wollte schon laut lachen – eine Seelenverwandte! –, aber ich blieb still, sah und hörte nur zu.
»Hier ist die Erklärung«, sagte Birdie. »Niemand weiß genau, warum ein Jubilee passiert, aber bestimmte Faktoren müssen zusammenkommen.«
Sie schrieb Die Bucht des Heiligen Geistes und sah dann zu mir auf. »So haben die Spanier Mobile Bay genannt. Und nur hier gibt es Jubilees.«
»Mutter«, unterbrach Sadie, »es gibt noch einen Ort.«
»Zählt nicht«, sagte Birdie und beugte sich zu mir. »Es heißt, in der Bucht von Tokio passiert es auch, aber das ist egal, weil man den Fisch und die Krabben da nicht essenkann. Kein echtes Jubilee, wenn man von diesem Opfer der Natur nichts hat.«
Sie schrieb die Zahl 1860 auf und erklärte: »Das ist das Jahr des ersten bekannten Jubilee, aber sicher hat es sie vorher schon gegeben. Nur weil etwas nicht bekannt ist, heißt das ja nicht, dass es nicht existiert.«
Dann schrieb sie: 1. Der Wind muss aus Osten kommen.
»Nun«, sagte sie, »die Alten wie ich und die kleinen Kinder – die Unschuldigen – wissen, dass sich die Luft wie Seide anfühlt. Wie samtige Seide. Wir spüren es im Voraus. Ich wollte gestern Abend schon etwas sagen, aber, na ja … ich wollte warten, bis es wirklich so weit war. Du hast so traurig gewirkt, und ich wollte dir nicht etwas Wunderbares ankündigen, das dann doch nicht passiert. Weil manchmal alles zusammenkommt, und trotzdem gibt es kein Jubilee.«
Dann schrieb sie die folgenden Punkte auf und erläuterte sie wie eine Lehrerin an einer Tafel:
2. Die Wassertemperatur an der Oberfläche muss niedrig sein.
3. Flut muss einsetzen.
4. Vor Sonnenaufgang.
5. Sommer.
»Mit all diesen Faktoren kann es ein Jubilee geben, aber es muss nicht. Die Wissenschaftler meinen, es liegt am geringen Sauerstoffgehalt, dass all die Fische und Krabben an die Oberfläche kommen. Aber sie können auch nicht erklären, warum manchmal nur die Krabben oder nur die Schollen kommen. Das ist wie mit dem Heiligen Geist –man kann versuchen, für alles eine Erklärung zu finden, aber manche Dinge lassen sich nicht erklären, sie bleiben mysteriös, und keine Liste der Welt kann da Klarheit schaffen.« Jetzt sah sie mich direkt
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