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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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dem die große Depression begann.
    *
    Mein Mann packt. Er fährt zu den Dreharbeiten seines Films. Es ist mir nicht ganz klar, warum ein Drehbuchschreiber bei den Dreharbeiten dabei sein muss. Aber er beharrt darauf, so müsse es bei diesem Film, seinem Film, sein.
    Die Kleine wacht mitternachts auf. Sie weint. Man muss eine Flasche sterilisieren.
    *
    Der Glatzkopf ist an Dakota hängen geblieben. Sie an seiner Badewanne. Es begann eine komplizierte Beziehung, gefährlich und multilateral.
    *
    Wann fährst du nach Philadelphia?
    Nächste Woche.
    Und warum packst du schon jetzt?
    Weil du das geschrieben hast. Du hast den Computer offen stehen lassen, und ich habe einen Abschnitt gelesen.
    Aber das ist nur ein Roman, nichts davon gibt es wirklich.
    *
    Moby gab es. Aber er hieß nicht Moby. Er hieß Bobby. Als ich das erfuhr – Dakota erzählte es mir –, schüttelte mich einLachkrampf und später dann ein Weinkrampf. Aber Bobby ist nicht wichtig, vielleicht gibt es ihn schon gar nicht mehr.
    Es gibt den Mittleren und die Kleine. Es gibt ein Haus, das Knarzen der alten Dielen, die inneren Erschütterungen der Dinge, die wir besitzen, das Palimpsest der Fenster, die Spuren von Händen und Lippen bewahren. Es gibt meinen Mann und mich, obwohl es uns immer öfter einzeln gibt, und es gibt die Nachbarn, die Nachbarschaft und die Kakerlaken, die schweigend herumspazieren.
    *
    Du bist eine Lügnerin.
    Warum?
    Du lügst.
    Du auch.
    *
    Der Mittlere kommt von der Schule. Sein Vater fährt morgen nach Philadelphia, er bereitet in der Küche das Essen vor. Der Mittlere setzt sich an den Esstisch und malt. Ich höre sie vom Wohnzimmer aus.
    Schau mal, Papa, ich habe ein Haus zum Wohnen gemacht.
    Aha.
    Weißt du, was mit meinem Haus passiert ist?
    Was?
    Da ist ein Windkreisel gekommen und hat es weggefegt.
    Das heißt nicht Kreisel, sondern Tornado.
    Da ist ein Windtornado gekommen und hat es weggefegt.
    Nicht Windtornado, einfach nur Tornado.
    Mir gefällt Windkreiseltornado.
    *
    Mein Mann ist nach Philadelphia gefahren. Das war nur natürlich, vermute ich. Zunächst das gegenseitige Belauern. Den anderen verfolgen und sich verfolgen lassen, bis keiner von beiden mehr ein Quäntchen Luft zum Atmen hat. Einen unendlichen Hass auf den anderen entwickeln. Nicht so sehr Überdruss (das hätte bedeutet, weitere zwanzig Jahre an seiner Seite und am Ende in einem anderen Bett schlafen). Nicht so sehr Verachtung (die ungenügende Größe seiner Hände, die harmlose Temperatur seines schlafenden Körpers, der Geschmack seines Schwanzes). Vielmehr Hass. Den anderen kaputtmachen, ihn emotional brechen, ein ums andere Mal. Sich kaputtmachen lassen. Das hier zu schreiben ist vulgär. Aber die Wirklichkeit ist noch vulgärer. Danach die moralischen Vorwürfe. Die Liste der Mängel des Angeklagten, immer begleitet von der impliziten Liste der Vorzüge des Anklägers. Die Temperatur des Gefechts steigt, es beginnen die geradezu komischen dramatischen Auftritte. Gesichter, Masken. Einer brüllt; die andere weint; und danach: Maskenwechsel. Das Ganze ein, zwei, drei oder sechs Stunden lang, bis endlich die Welt zusammenbricht: am morgigen Tag, diesen Sonntag, nächsten Mittwoch, an Weih nachten. Am Ende dann ein seltsamer Friede, geschöpft aus wer weiß welchem verfaulten inneren Organ. Es war eine einzige Geste, diemich gebrochen hat, endgültig zerbrochen. Sein Jubelschrei, nachdem er die Haustür hinter sich geschlossen hatte: Philadelphia!
    *
    Die Linie einer Geschichte verfolgen, wie die Hinternlinie eines ekuadorianischen Knaben, der später Detektiv in Harlem wurde. Gegen alle und jedes angehen, gegen die Vergangenheit und die Gegenwart, sofern dabei die Geschichte vorankommt. Nie die Linie verlieren. Die Augen schließen, sich einen Kübel über den Kopf stülpen und laut singen, nur, um sich diesen flachen, zusammengekniffenen Hintern vorstellen zu können.
    *
    Als ich die Stadt verließ, verschenkte ich alle Möbel aus meiner Wohnung und verteilte die Pflanzen unter meinen Bekannten. Nur nicht den toten Baum. Den hinterließ ich in Philadelphia. Ich habe den Zug dorthin genommen. Ich wollte den Baum auf dem Friedhof lassen. Laura und Enea brachten mich hin, stellten keine Fragen: Sie sind Menschen, die Achtung vor den anderen haben, keine Erklärungen fordern. Wir gingen auf den Friedhof, fanden das Grab von Owen jedoch nicht. Sie wollten den Baum dann behalten. Sie gießen ihn noch immer, erzählen sie mir, wenn wir telefonieren. Noch

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