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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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verstanden, vielleicht weil prophetische Witze nicht zum Lachen reizen. Der größte Fehler der Yankees ist ihre Unfähigkeit, schlecht über andere Menschen zu reden. In gewisser Hinsicht hatte ich recht. Aber damals, in jenem Leben, hatte ich kein Bewusst sein von der wirkmächtigsten Fähigkeit der Yankees – ich wohnte gegenüber vom Morningside Park zwischen Schwarzen, die jeden Sonntag Wassermelone und Hühnchen aßen (wie die Mexikaner), und einer Überpopulation von Grillen, die sogar die
United
wie das Volksfest eines Dorfs in Sinaloa klingen ließen. Die höchste Tugend der Yankees ist – inzwischen weiß ich es –, nichts zu sagen; es gilt, das Schweigen um eine Person zu nähren, bis diese Person sich auf dem nächsten Friedhof ein Grab schaufelt, der eigenen Unfähigkeit bewusst, dem Fünf-Uhr-Treffen und dem Glück am Sonntag zu genügen und der Pflicht, immer ein
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zu sein etcetera.
    Federico hingegen: Der españolet und sein wunderbarer culet, sagte Salvador Novo.
    *
    White entschied, dem Kritiker vom NYBR nicht die ganze Lüge zu offenbaren. Er schrieb jedoch einen Artikel, erklärtedarin, er habe sich geirrt, das vom Verlag veröffentlichte Manuskript sei in Wahrheit apokryph, wir seien in einem Anfall von Begeisterung alle darauf reingefallen. Der Fehler, den White auf sich genommen hatte, wohl wissend, dass sein guter Ruf als Verleger damit ruiniert war (was er dann natürlich auch war), löste jedoch eine unerhörte Euphorie aus, in deren Folge in den nächsten Monaten, ja, sogar Jahren, eine Flut von apokryphen Manuskripten auftauchte, die mit Owens Aufenthalt in New York zu tun hatten. Es fand sich sogar eine »verlorene« Nummer der von Ezra Pund herausgegebenen Zeitschrift
Exile
, mit Auszügen aus der Gedichtsammlung
Línea
, die Owen um 1930 veröffentlicht hatte. Ich wollte White anrufen, aber Minni ging ans Telefon: Er sagt, er kann nicht mit dir sprechen, aber du sollst dir keine Sorgen machen, ich weiß nicht, was er damit meint, aber du kennst ihn ja, er hat mir jedenfalls gesagt, ich solle dir sagen, du sollst dir keine Sorgen machen.
    Ich las den Artikel von White am Flughafen, ein paar Stunden bevor ich an Bord ging. Owen würde sich zweifellos zu einem neuen Bolaño entwickeln. Oder, besser noch, zu einem neuen, haltbaren Neruda.
    *
    Er war dünn und glaubte an Gedichtanthologien. Ich schlug Maestro Alfonso Reyes eine Sammlung nordamerikanischer Lyrik vor. Ich wollte Pound, Dickinson und William Carlos Williams übersetzen. Mich beunruhigte der Gedanke, dass Pound in einem Käfig gelebt hatte, dass Williams Gynäkologegewesen war und dass Dickinson nie ihr Haus verlassen hatte. Es gab in dieser Konstellation von Dichtern eine seltsame Korrespondenz, die vielleicht durch den Käfig, das Haus und die Vaginas bestimmt wurde. Ich vermute, dass dies die Art von Motiven sind, die wirklich zählen, was ich in meinem Brief natürlich nicht erwähnte, ich sprach vielmehr davon, wie wichtig es sei, die Stimmen dieser drei Giganten unserer Tradition einzugemeinden. Der Meister begeisterte sich für die Idee. Ich übersetzte im Flug über 200 Gedichte von Dickinson. Ich schickte sie ihm in einem nach Brasilien adressierten Umschlag, der dann wahrscheinlich nicht einmal den Río Suchiate überquerte.
    *
    Ich habe die letzten zehn Seiten ausgedruckt, um sie laut zu lesen, zu streichen, neu zu schreiben. Ich habe sie über Nacht auf dem Küchentisch liegen lassen. Heute Morgen ging ich runter zum Frühstück und sah meinen Mann in der Küche. Während er den Herd für den Kaffee anmacht, fragt er:
    Warum hast du mich aus dem Roman verbannt?
    Was?
    Du hast geschrieben, dass ich nach Philadelphia gezogen bin. Warum das?
    Damit was passiert.
    Aber wenn ich weggehe, dann hat es doch keinen Sinn mehr, zwei Romane zu schreiben.
    Dann bleibst du eben.
    Oder vielleicht gehe ich lieber. Lässt du mich gerade gehen?
    Oder vielleicht stirbst du.
    Oder ich bin schon gestorben.
    *
    In jener Stadt starb ich ständig. Das erste Mal, dass mir das passierte, habe ich es, glaube ich, gar nicht bemerkt. Es war an einem dieser Sommertage, an denen es so heiß ist, dass das Hirn in einer schwammigen Lethargie versumpft, die das Sprießen und die Verfestigung auch nur des simpelsten Gedanken verhindert. Das Hirn blubbert nur noch.
    Ich war gerade in der Stadt angekommen und musste mich um eine Angelegenheit kümmern, die der Konsul für diplomatisch höchst dringlich hielt. Ein Pilot namens Emilio Carranza

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