Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Schlag ist das«, flüsterte er mir leise ins Haar. »Ich hatte erwartet, sie würde erwachsen sein, beinahe eine Frau. Ich hatte vor, sie mit François oder sogar seinem Sohn zu verheiraten, um uns dadurch an Frankreich zu binden. Ein Mädchen nützt mir ohnehin nichts, überhaupt nichts. Aber ein Mädchen, das man nicht einmal verheiraten kann!« Er brach ab, hatte mit zwei raschen, wütenden Schritten das Zimmer durchmessen. Mit einer einzigen Handbewegung wischte er die auf dem Tisch liegenden Spielkarten herunter und warf den Tisch um. Das Poltern rief die Wache auf den Plan.
|249| »Majestät?«
»Laßt mich in Ruhe!« brüllte Henry zurück.
Er wandte sich zu mir. »Warum tut Gott mir das an? Keine Söhne und eine Tochter, die aussieht, als könnte sie der nächste strenge Winter dahinraffen? Ich habe keinen Erben. Ich habe keinen Nachfolger. Warum tut Gott mir das an?«
Ich schwieg und wartete ab.
»Es liegt an der Königin, nicht wahr?« fragte er. »Das denkt Ihr doch. Das denken sie alle.«
Ich wußte nicht, ob ich ihm zustimmen oder widersprechen sollte. Ich beobachtete ihn vorsichtig und hielt den Mund.
»Es ist diese gottverdammte Heirat«, fuhr er fort. »Ich hätte es niemals tun dürfen. Mein Vater wollte es nicht. Er meinte, sie solle als verwitwete Prinzessin in England bleiben, sich unseren Befehlen unterwerfen. Aber ich dachte … ich wollte …« Er unterbrach sich. Er mochte sich nicht daran erinnern, wie sehr er sie geliebt hatte. »Der Papst hat uns Dispens gegeben, aber das war ein Fehler, Man kann gegen das Wort Gottes keinen Dispens erwirken.«
Ich nickte ernsthaft.
»Ich hätte die Frau meines Bruders nicht heiraten dürfen. So einfach ist das. Und weil ich sie geheiratet habe, bin ich mit dem Fluch ihrer Unfruchtbarkeit geschlagen. Gott hat diesem Fehltritt, dieser Ehe seinen Segen verweigert. Jedes Jahr hat er sein Antlitz weiter von mir abgewandt. Ich hätte es früher bemerken müssen. Die Königin ist nicht meine Ehefrau, sie ist Arthurs Ehefrau.«
»Aber diese Ehe ist doch nie vollzogen worden«, begann ich.
»Das ist einerlei«, fuhr er scharf dazwischen. »Und sie wurde vollzogen.«
Ich senkte den Kopf.
»Komm ins Bett«, sagte Henry plötzlich müde. »Ich kann es nicht ertragen. Ich muß mich von meinen Sünden befreien. Ich muß die Königin fortschicken. Ich muß mich von dieser schrecklichen Sünde reinwaschen.«
Gehorsam ging ich zum Bett, ließ meinen Umhang von den |250| Schultern gleiten, schlug die Laken zurück und stieg hinein. Henry fiel am Fußende auf die Knie und betete inbrünstig. Ich lauschte seinen gemurmelten Worten und merkte, daß auch ich betete: eine machtlose Frau für eine andere. Ich betete für die Königin, nun, da der mächtigste Mann Englands sie bezichtigte, ihn zu einer Todsünde verleitet zu haben.
|251| Herbst 1526
Wir kehrten nach Greenwich zurück, in einen der Paläste, die der König am meisten liebte. Seine finstere Laune war jedoch immer noch nicht verflogen. Er verbrachte viel Zeit mit seinen Geistlichen und Ratgebern, und einige Leute meinten, er bereite die Herausgabe eines neuen Buchs vor, einer weiteren theologischen Schrift. Aber ich wachte in den meisten Nächten bei ihm, während er las und schrieb, und wußte, daß er mit den Worten der Bibel rang, daß er herausfinden wollte, ob es Gottes Wille war, daß ein Mann die Witwe seines Bruders heiratete – um so für sie zu sorgen. Oder ob er nach Gottes Willen die Frau seines Bruders verstoßen sollte – weil er Schande über seinen Bruder brächte, wenn er sie mit Begierde anblickte. Verschiedene Abschnitte der Bibel machten über Gottes Willen in dieser Frage unterschiedliche Aussagen. Ein ganzes Kolleg von Theologen wäre notwendig, um darüber zu entscheiden, was hier Vorrang haben sollte.
Mir schien es klar, daß ein Mann die Witwe seines Bruders heiraten müßte, damit dessen Kinder ein gutes Zuhause bekämen und die Ehefrau ordentlich versorgt wäre. Gott sei Dank behielt ich meine Meinung bei den abendlichen Beratungen in Henrys Gemächern für mich. Die Männer disputierten in griechischer und lateinischer Sprache, nahmen auf die Originaltexte Bezug und schlugen bei den Kirchenvätern nach. Die vom gesunden Menschenverstand bestimmte Ansicht einer ganz gewöhnlichen jungen Frau wäre das letzte gewesen, was sie hören wollten.
Ich war Henry keine Hilfe. Ich konnte ihm keine Hilfe sein. Anne hatte den nötigen Verstand, und Anne allein hatte die Fähigkeit,
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