Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
möglich war. König und Königin waren nett und höflich zueinander. Der päpstliche Legat war von Rom unterwegs, schien aber außerordentlich lange für diese Reise zu brauchen. Anne war wieder am Hof, doch der König hatte einen glücklichen Sommer ohne sie verbracht, und vielleicht war seine Leidenschaft abgekühlt.
Niemand wagte eine Voraussage, wie sich die Dinge entwickeln würden. Menschen strömten herbei, um der Königin ihren Respekt zu bezeugen, und gingen dann gleich zu Anne weiter. Dabei trafen sie auf den Strom derjenigen, die auf das andere Pferd gesetzt hatten. Man munkelte sogar, Henry würde schließlich doch zu mir und unseren beiden Kindern zurückkehren. Ich schenkte dem keine Beachtung, bis ich hörte, daß mein Onkel mit dem König über seinen hübschen Sohn in Hever gescherzt hatte.
Genau wie Anne und George wußte ich sehr wohl, daß mein Onkel nie etwas zufällig tat. Anne nahm George und mich mit in ihr Privatgemach und baute sich vor uns auf.
»Was geht hier vor?« fragte sie gebieterisch.
Ich zuckte die Achseln, aber George schaute verlegen drein.
»George?«
»Es ist doch immer so, daß ein Stern aufgeht, wenn ein anderer im Sinken ist«, erwiderte er ausweichend.
»Was meinst du damit?« hakte sie in frostigem Ton nach.
»Der Familienrat hat wieder getagt.«
»Ohne mich?«
George hob beschwichtigend die Hände. »Man hat mich hinbefohlen. Ich habe nichts gesagt. Kein Sterbenswörtchen.«
Anne und ich fielen sofort über ihn her. »Sie haben sich ohne uns zusammengesetzt? Was wollen sie jetzt wieder?«
George hielt sich uns beide auf Armeslänge vom Leib. »Nun gut! Nun gut! Sie wissen nicht, wie sie vorgehen sollen. Sie können sich nicht entscheiden. Sie wollten nicht, daß |322| Anne davon erfuhr, weil sie fürchteten, sie zu kränken. Aber jetzt, da du, Mary, glücklich Witwe bist und Henry im Sommer das Interesse an Anne verloren hat, fragen sie sich, ob er sich nicht wieder zu dir lenken läßt.«
»Er hat keineswegs das Interesse an mir verloren!« protestierte Anne. »Ich lasse mich nicht verdrängen.« Sie fuhr zu mir herum. »Du Miststück! Das ist dein Plan!«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nichts getan.«
»Du bist an den Hof zurückgekehrt.«
»Darauf hast du selbst bestanden. Ich habe den König fast nicht beachtet, keine zwei Worte mit ihm gewechselt.«
Sie wandte sich von mir ab und ließ sich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett fallen, als könne sie unseren Anblick nicht ertragen. »Aber du hast einen Sohn«, kreischte sie.
»Darum geht es eigentlich«, sagte George sanft. »Mary hat einen Sohn, und jetzt ist sie frei und könnte heiraten. Die Familie ist der Meinung, der König könnte sich für sie entscheiden. Der Dispens würde für jede von euch gelten. Er kann sie heiraten, wenn er will.«
Anne erhob sich mit tränennassen Wangen vom Kissen.
»Ich will ihn aber nicht«, sagte ich gereizt.
»Das spielt dabei keine Rolle, oder?« antwortete sie bitter. »Wenn sie anordnen, daß du den Vortritt haben sollst, dann gehst du und nimmst mir meinen Stuhl weg.«
»Wie du mir meinen weggenommen hast«, erinnerte ich sie.
Sie setzte sich auf. »Ein Boleyn-Mädchen oder das andere.« Sie lächelte säuerlich. »Jede von uns beiden könnte Königin von England werden. Für unsere Familie bleiben wir stets auswechselbar.«
Die nächsten Wochen verbrachte Anne damit, den König aufs neue zu erobern. Sie lockte ihn von der Königin, ja sogar von seiner Tochter fort. Der Hof begriff allmählich, daß sie ihn zurückgewonnen hatte. Nun gab es nur noch Anne.
Ich beobachtete die Verführung mit Gleichmut. Henry schenkte Anne ein Haus in London, Durham House. Außerdem bezog sie in der Weihnachtszeit eigene Gemächer über |323| der Turnierbahn. Der königliche Rat verkündete, die Königin dürfe sich weder zu prächtig kleiden noch ausgehen und öffentlich zeigen. Allen war klar, daß es nun nur eine Frage der Zeit war, bis Kardinal Campeggio die Scheidung aussprach und Henry endlich Anne heiratete. Dann könnte ich zu meinen Kindern gehen und ein neues Leben beginnen.
Ich war nach wie vor Annes wichtigste Vertraute und Gefährtin. Eines Tages im November bestand sie darauf, daß sie, George und ich beim Greenwich Palace am Fluß entlangspazierten.
»Du hast dich sicher schon gefragt, was jetzt aus dir werden soll, da du keinen Mann mehr hast«, begann Anne. Sie setzte sich auf eine Bank und schaute zu mir auf.
»Ich dachte, ich würde
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