Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
und im Gegenzug helfen wir ihm auf seinem Weg nach oben. Du weißt, daß es so ist, Mary. Nur eine Närrin beklagt sich darüber.«
»Das vergesse ich dir niemals, Anne«, zischte ich. »Auf deinem Totenbett noch werde ich dich daran erinnern, daß du mir den Sohn genommen hast, weil du Angst hattest, du könntest selbst keinen bekommen.«
»Das kann ich sehr wohl!« erwiderte sie, zutiefst getroffen. »Du hast es geschafft. Warum nicht auch ich?«
|326| Ich lachte höhnisch. »Weil du jeden Tag älter wirst«, sagte ich gehässig. »Und der König auch. Wer weiß, ob ihr überhaupt ein Kind bekommen könnt? Ich habe ihm sogar zwei Kinder geschenkt. Du wirst niemals einen Sohn wie meinen kleinen Henry haben, Anne. Im tiefsten Herzen weißt du, daß du niemals einen Sohn haben wirst, der es mit ihm aufnehmen kann. Du kannst nur eines, mir meinen Jungen stehlen, weil du weißt, daß du nie einen eigenen haben wirst.«
Sie war so bleich, daß man hätte meinen können, das Schweißfieber sei zurückgekehrt.
»Hört auf«, rief George. »Hört auf, ihr beiden.«
»Sag das nie wieder!« zischte sie. »Du willst mich verfluchen. Wenn ich zu Fall komme, gehst auch du mit unter, Mary. Und George. Wir alle. Wage es bloß nicht, das noch einmal zu sagen, sonst lasse ich dich in ein Kloster stecken, und du siehst keines deiner Kinder je wieder.«
Sie sprang auf und rannte davon. Ich schaute ihr nach, wie sie den Pfad zum Palast hinauflief, und überlegte, was für eine gefährliche Feindin sie doch war. Vielleicht ging sie schnurstracks zu Onkel Howard oder zum König. Auf Anne hörten alle, die mir Befehle erteilen könnten. Wenn sie meinen Sohn, mein Leben wollte, mußte sie es nur einem von ihnen sagen, und es würde geschehen.
George legte seine Hand auf meine. »Es tut mir leid«, meinte er verlegen. »So bleiben deine Kinder zumindest in Hever, und du kannst sie besuchen.«
»Sie nimmt sich alles«, erwiderte ich. »Sie hat immer alles an sich gerissen. Aber das hier verzeihe ich ihr nie.«
|327| Frühling 1529
Anne und ich saßen, hinter einem Vorhang versteckt, hinten im Saal des Dominikanerklosters. Wir mußten einfach dabeisein. Jeder, der auch nur den geringsten Vorwand finden konnte, wohnte diesem Gerichtsverfahren bei. Nichts dergleichen hatte man in England je erlebt. Zeugen sollten für und wider die Ehe des Königs und der Königin von England aussagen, ein höchst außerordentliches Ereignis.
Der Hof residierte gleich nebenan im Bridewell Palace. Jeden Abend setzten der König und die Königin sich im Großen Saal von Bridewell zu Tisch, und jeden Morgen hörten sie sich im Dominikanerkloster an, ob ihre Ehe in all den zwanzig Jahren, die sie gedauert hatte, überhaupt je gültig gewesen war.
Es war ein schrecklicher Tag. Die Königin hatte sich eindeutig entschlossen, den Befehl des königlichen Rates zu mißachten, daß sie sich sehr schlicht zu kleiden habe. Sie trug ein neues Samtkleid mit einem Rock aus Goldbrokat, das an den Ärmeln und am Saum mit prächtigem schwarzem Zobelfell verbrämt war. Eine dunkelrote Haube rahmte ihr Gesicht ein, und sie wirkte nicht so müde und traurig wie in den vergangenen beiden Jahren, sondern feurig und lebhaft, zum Kampf bereit.
Als man den König aufforderte, sich vor Gericht zu äußern, sagte er, er hätte von Anfang an Zweifel an der Gültigkeit der Ehe gehegt. Da unterbrach ihn die Königin – wie es sonst niemand auf der Welt gewagt hätte – und meinte sehr vernünftig, er hätte seine Zweifel dann aber sehr lange für sich behalten. Der König fuhr mit lauterer Stimme in seiner vorbereiteten Aussage fort, doch er war völlig verwirrt.
Er erklärte, er hätte seine Zweifel überwunden, weil er die Königin so sehr liebte, könne aber nun seine Ängste nicht |328| mehr ignorieren. Ich spürte, daß Anne neben mir ungeduldig wurde. »Was für ein Unsinn!« flüsterte sie.
Nun rief man die Königin auf, sich zur Aussage des Königs zu äußern. Der Gerichtsdiener verkündete ihren Namen einmal, zweimal, dreimal. Sie ignorierte ihn völlig, obwohl er unmittelbar neben ihr stand. Hoch erhobenen Hauptes schritt sie quer durch den Gerichtssaal direkt auf Henry zu, der auf seinem Thron saß. Anne verrenkte den Hals. »Was macht sie? Das kann sie doch nicht tun.«
Ich hörte die Aussage der Königin laut und deutlich, obwohl wir ganz hinten im Raum saßen.
»Ach, mein Herr!« sagte sie sanft und in vertrautem Ton. »Womit habe ich Euch beleidigt? Ich
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