Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
Vielleicht wäre es doch weitaus besser, wenn die Kirche zunächst Gott verantwortlich wäre und ansonsten, wie alles andere im Land, vom König von England regiert würde.
Außerhalb der Kirche wollte niemand Argumente gegen diese Logik vorbringen. In der Kirche protestierte lediglich Bischof Fisher, der getreue, störrische, alte Beichtvater der Königin, als Henry sich zum uneingeschränkten Oberhaupt der englischen Kirche ernannte.
»Ihr solltet ihm den Zutritt zum Hof verweigern«, riet Anne Henry. Sie saßen im Audienzraum des Palastes in |371| Greenwich. Anne senkte ihre Stimme nur ein wenig aus Rücksicht auf die Bittsteller, die darauf warteten, zum König vorgelassen zu werden. »Er schleicht sich ständig in die Gemächer der Königin, und sie flüstern stundenlang miteinander. Wer sagt denn, daß sie wirklich beichtet und daß er betet? Wer weiß, was für Ratschläge er ihr gibt? Wer weiß, was für geheime Pläne sie schmieden?«
»Ich kann ihr die Sakramente der Kirche nicht verweigern«, erwiderte der König vernünftig. »Sie wird im Beichtstuhl wohl kaum Pläne aushecken.«
»Er ist ihr Spion«, sagte Anne.
Der König tätschelte ihr die Hand. »Frieden, mein Liebling«, besänftigte er sie. »Ich bin das Oberhaupt der Kirche von England, ich kann über meine eigene Ehe entscheiden. Es ist beinahe schon vollbracht.«
»Fisher wird sich gegen uns aussprechen«, antwortete sie ärgerlich. »Und alle werden ihm zuhören.«
»Fisher ist nicht das Oberhaupt der Kirche«, wiederholte Henry und genoß diese Worte. »Das bin ich.« Er blickte zu einem der Bittsteller hinüber. »Was begehrt Ihr? Ihr könnt näher treten.«
Der Mann trug eine Erbstreitigkeit vor. Vater, der den Mann zum Hof gebracht hatte, stand hinten im Raum und ließ ihn sein Anliegen darlegen. Anne trat leise von Henrys Seite zu Vater hinüber, berührte ihn am Arm und flüsterte ihm etwas zu. Dann kam sie lächelnd zum König zurück.
Einige Abende später erkrankte Bischof Fisher und wäre beinahe gestorben. Drei Herren an seinem Tisch erlagen einer Vergiftung, und auch anderen in seinem Haushalt ging es sehr schlecht. Jemand hatte den Koch bestochen, und der hatte Gift in die Suppe geschüttet. Der Bischof hatte Glück gehabt: Ihm hatte an diesem Abend die Suppe nicht geschmeckt.
Ich fragte Anne nicht, was sie zu Vater gesagt oder was er geantwortet hatte. Ich fragte sie nicht, ob sie etwas mit der Krankheit des Bischofs und mit dem Tod seiner unschuldigen |372| Tischgefährten zu tun hatte. Es war keine Kleinigkeit, sich vorzustellen, daß die eigene Schwester, der eigene Vater Mörder waren. Doch ich erinnerte mich an ihre finstere Miene, als sie beteuerte, Fisher ebenso zu hassen wie einst Wolsey. Und jetzt war der Kardinal tot, und Fishers Essen hatte man vergiftet. Annes Motto lautete: »Gönne dem nichts, der dir nichts gönnt!« Es schien wie ihr Fluch auf den Boleyns, den Howards, ja auf dem Land selbst zu lasten.
Am Osterfest stand die Königin, wie sie es prophezeit hatte, wieder im Mittelpunkt des Hofes. Der König speiste jeden Abend mit ihr und lächelte. Und die Menschen, die aus der Stadt gekommen waren, um sie beim Festessen zu sehen, gingen heim und sagten, wie schade es doch sei, daß ein Mann in der Blüte seiner Jahre durch die Ehe an eine so viel ältere und so ernst dreinblickende Frau gefesselt war. Manchmal zog sich die Königin vorzeitig zurück, ich gesellte mich dann immer zu ihr. Ich war des endlosen Tratsches, der gehässigen Bemerkungen der Frauen und des spröden Charmes meiner Schwester überdrüssig. Und ich fürchtete mich vor dem, was ich sehen würde, wenn ich bliebe. Der Hof war in den letzten Jahren wesentlich unberechenbarer geworden.
Die Königin nahm meine Dienste wortlos entgegen. Sie erwähnte nie meinen Verrat. Nur einmal fragte sie, ob ich mir nicht lieber im Saal die Unterhaltung und den Tanz ansehen würde.
»Nein«, antwortete ich. Ich hatte ein Buch zur Hand genommen und wollte ihr gerade vorschlagen, ihr vorzulesen, während sie am Altartuch stickte. Das Tuch war wie ein Gewand über ihren Schoß gebreitet, fiel in üppigen blauen Falten zu Boden. Es war nur noch ein kleines Stückchen blauer Himmel zu füllen. Sie hatte bemerkenswert schnell und genau gearbeitet.
»Liegt Euch nichts am Tanzen?« fragte sie mich. »Habt Ihr als junge Witwe denn keine Freier?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Majestät.«
»Euer Vater hält bestimmt Ausschau nach einem neuen
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