Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
bedeckt. Es war eine verschlüsselte Botschaft.
Lange kniete ich da. Dann packte ich die Orangen langsam wieder ein und stellte den Korb auf eine niedrige Truhe. Den Zettel steckte ich in die Tasche und kehrte in das andere Zimmer zur Königin zurück, die ich mehr als jede andere Frau auf der Welt liebte. Ich saß neben ihr, stickte an ihrem Altartuch und überlegte, was ich mit der drohenden Katastrophe in der Tasche meines Kleides anfangen sollte.
Ich hatte keine Wahl. Von Anfang an hatte ich keine Wahl gehabt. Ich war eine Boleyn. Ich war eine Howard. Wenn ich nicht zu meiner Familie hielt, dann war ich ein Niemand, dann hatte ich keine Möglichkeit, meine Kinder zu ernähren, keine Zukunft, keinen Schutz. Ich trug den Zettel in die Gemächer meines Onkels.
Nach kaum einem halben Tag hatte er den Code entschlüsselt. Es handelte sich nicht um eine komplizierte Verschwörung, war lediglich eine Botschaft der Hoffnung, die der spanische Botschafter meiner Tante zugeflüstert hatte und die sie an die Königin weitergeleitet hatte. Die Worte hätten lediglich der Königin ein wenig Trost gespendet, und dieses Trostes hatte nun ausgerechnet ich sie beraubt.
Die Sache kam ans Licht der Öffentlichkeit, weil mein Onkel seiner Frau lautstark vorwarf, sie habe den König und ihren Gatten verraten, und weil auch der König selbst meine Tante tadelte. Ich ging ich zur Königin, die sich in ihren Gemächern aufhielt und über den eisigen Garten unten schaute. Einige Höflinge spazierten, in warme Pelze gehüllt, zum Fluß hinunter, brachen zu einem Besuch bei meiner Schwester auf. Die Königin stand einsam und schweigend da und beobachtete sie.
Ich fiel vor ihr auf die Knie.
»Ich habe meinem Onkel die Nachricht der Herzogin überbracht«, beichtete ich. »Ich habe sie zwischen den Orangen |366| gefunden. Wenn sie mir nicht zufällig in die Hand gefallen wäre, ich hätte niemals danach gesucht. Immerzu verrate ich Euch, und doch ist es nie meine Absicht.«
Sie blickte zu mir herab, als sei ihr das alles gleichgültig. »Ich kenne niemanden, der anders gehandelt hätte«, bemerkte sie. »Vor Gott solltet Ihr auf die Knie fallen, Lady Carey, nicht vor mir.«
Ich erhob mich nicht. »Ich möchte Euch um Verzeihung bitten«, sagte ich. »Es ist mein Schicksal, einer Familie anzugehören, deren Interessen den Euren entgegengesetzt sind. Wenn ich zu einer anderen Zeit Eure Hofdame gewesen wäre, hättet Ihr niemals Zweifel an mir hegen müssen.«
»Wenn man Euch nicht in Versuchung geführt hätte, wärt Ihr dieser nicht erlegen. Wenn es nicht in Eurem Interesse gewesen wäre, mich zu verraten, so wärt Ihr treu gewesen. Geht, Lady Carey, Ihr seid keinen Deut besser als Eure Schwester, die ihre eigenen Ziele verfolgt und nie nach rechts oder links schaut. Nichts wird die Boleyns davon abhalten, ihre Ziele zu erreichen, das weiß ich. Manchmal denke ich, sie wird dazu nicht einmal vor meinem Tod zurückschrecken. Und ich weiß, daß Ihr Eurer Schwester helfen werdet, ganz gleich, wie sehr Ihr mich liebt, wie sehr ich Euch geliebt habe, als Ihr meine kleine Zofe wart.«
»Sie ist meine Schwester«, erwiderte ich.
»Und ich bin Eure Königin«, entgegnete sie eisig.
Meine Knie schmerzten, aber ich wollte nicht aufstehen.
»Sie hat meinen Sohn in ihrer Macht«, sagte ich. »Und führt meinen König wie eine Marionette am Faden.«
»Geht«, wiederholte die Königin. »Die Festtage sind bald vorüber, und vor Ostern werden wir uns nicht wiedersehen. Bald fällt der Papst seine Entscheidung. Sobald er dem König mitteilt, daß er zu seiner Ehe mit mir stehen muß, unternimmt Eure Schwester den nächsten Schritt. Was habe ich dann zu erwarten, was meint Ihr? Eine Anklage wegen Hochverrats? Gift im Essen?«
»Das würde sie niemals tun«, flüsterte ich.
»Doch«, meinte die Königin ruhig. »Und Ihr würdet ihr dabei |367| helfen. Geht, Lady Carey, vor Ostern will ich Euch nicht wiedersehen.«
Ich erhob mich und bewegte mich rückwärts zur Tür, sank in einen tiefen Hofknicks. Mein tränennasses Gesicht zeigte ich ihr nicht, ich verneigte mich in Scham. Ich schloß die Tür hinter mir und ließ sie allein zurück. Sie blickte noch immer über den eisigen Garten auf die lachenden Höflinge, die aufbrachen, um ihrer Feindin die Aufwartung zu machen.
Jetzt, da beinahe der ganze Hof fortgezogen war, lag der Park still da. Ich schob die kalten Hände tief in den Pelzbesatz meiner Ärmel und ging mit gesenktem
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